Die Schattenträumerin
Fiorella inWahrheit gehofft, dass sich ihre Tochter voller Sorge umgehend in das nächste Flugzeug setzt.
»Meinst du, ich habe nicht bemerkt, dass Isabella so selten wie möglich nach Venedig kommt?«, fuhr Fiorella in bitterem Ton fort. »Weißt du, ich habe darüber nachgedacht, was du mir an dem Nachmittag vor meinem Unfall an den Kopf geworfen hast. Schon als deine Mutter klein war, sind wir immer aneinandergeraten. Sie ist nicht wie meine anderen Töchter. Nie wollte sie sich etwas sagen lassen, der kleine Sturkopf.« Ein wehmütiger Ausdruck legte sich über Fiorellas faltige Gesichtszüge. »Isabella ist wie ein Vogel, den man nicht einsperren darf und der seine Freiheit braucht. Vielleicht … hätte ich nicht so streng zu ihr sein dürfen.« Ihre Stimme war plötzlich voller Wärme und Liebe. »Weißt du, was das Verrückte daran ist? Trotz all unserer Streitereien ist mir Isabella die Liebste von allen.«
»Ich glaube, sie vermisst dich auch sehr. Du könntest ja vielleicht einmal mit ihr reden?«
»Ich?«, fragte Fiorella entrüstet. Augenblicklich kniff sie wieder ihre Lippen zusammen. »Sie ist meine Tochter. Wenn sie etwas von mir will, dann soll sie zu mir kommen. Ich bin jederzeit bereit, ihre Entschuldigung anzunehmen.«
Francesca schüttelte fassungslos den Kopf. Das war ja wirklich zum Verzweifeln!
»Nonna, nimm es mir bitte nicht übel«, sie tätschelte liebevoll die Hand ihrer Großmutter, »aber das ist mir jetzt wirklich zu blöd. Ich mach mich jetzt mit Gianna auf den Weg. Wir müssen Venedig retten.«
Als sie eiligen Schrittes das Zimmer verließ, hallte ihr Nonnas wutschnaubendes Gezeter, in dem immer wieder die Worte »rotzfrech« und »demnächst übers Knie legen« vorkamen, bis in den Flur hinterher.
Silvio Salvatori ging vor ihnen einen der endlos langen Flure entlang, in dem sich zu beiden Seiten Regale bis zur Decke erhoben. Der muffige Geruch von alten Akten und Staub erfüllte die Luft und Francesca hatte das Gefühl, dass dies ein Ort war, an dem die Zeit stehen geblieben war. Salvatori war ein kleiner, rundlicher Mann, dessen kurz geschorenes weißes Haar kaum noch zu sehen war. Er stand tatsächlich kurz vor seiner Pensionierung, doch trotz seines fortgeschrittenen Alters hatte er wache, aufmerksame Augen.
»Ich habe euren Großvater kennengelernt, gleich nachdem ich Direktor des Staatsarchivs geworden bin. Meine Güte, wie lange ist das nun her? Das war neunzehnhundert…« Er blieb einen Moment lang nachdenklich stehen, doch dann zuckte er mit den Schultern. »Ach herrje, ich bin ein vergesslicher alter Mann geworden und sollte wohl besser ein Archiv über die Daten meines eigenen Lebens führen.« Er stieß ein belustigtes Lachen aus, das sein Doppelkinn fröhlich auf und ab hüpfen ließ. Gianna und Francesca, die seinen Scherz nicht ganz so gelungen fanden wie er selbst, setzten ein höfliches Lächeln auf. Wahrscheinlich wurde man zwangsläufig etwas wunderlich, wenn man das ganze Leben nur mit dem Sortieren von Akten verbracht hatte.
Salvatori führte sie in sein Büro. Auf einem kleinen Tischhatte er schon einen schwarzen Aktenschuber bereitgelegt, auf dem in großen Buchstaben »Medici« stand. Auch in Salvatoris Büro standen in jedem verfügbaren Winkel Regale voller Akten, was den Raum düster und trostlos wirken ließ. Das einzig farbenfrohe waren kunstvoll gefertigte Tierfiguren aus bunt schillerndem Glas, die sich auf dem Fensterbrett wie zu einer fröhlichen Parade reihten.
Salvatori grinste jungenhaft, als er Francescas Blick auffing. »Murano-Tierfiguren – eine kleine Marotte von mir«, erklärte er. »Als Kind wollte ich immer Zirkusdirektor werden.«
Mit einer feierlichen Geste öffnete er den Schuber. »Hier seht ihr die gesammelte Geschichte eurer venezianischen Vorfahren vor euch. Lückenlos recherchiert, was wir vor allem Leonardo zu verdanken haben.«
»Unserem Großvater?«, fragte Francesca verblüfft.
»Oh ja, er hat sich sehr für die Geschichte eurer Familie interessiert und viele Stunden im Archiv verbracht. Er war sogar noch am Tag seines Unfalls hier und hat einige Dokumente durchgearbeitet. Es war so eine tragische Geschichte!« Salvatori seufzte betrübt auf. »Leonardo würde es sicherlich freuen, wenn er wüsste, dass sich nun auch seine Enkelkinder für die Familienhistorie interessieren. Auch wenn die Medici-Familie in Venedig bedauerlicherweise nie eine große Rolle gespielt hat.«
»Aber ich dachte, bevor die Medicis
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