Die Schattenträumerin
verarmten, wären sie eine einflussreiche Familie gewesen«, warf Gianna ein. »Immerhin hatten sie Geld genug, um den Palazzo zu bauen.«
»Geld ist nicht gleichbedeutend mit Einfluss und Macht«,sagte Salvatori mit belehrend erhobenem Zeigefinger. »Es stimmt, dass das Bankgeschäft der Medicis in den ersten Generationen, nachdem sie aus Florenz gekommen waren, florierte. Doch das beeindruckte die Oberschicht Venedigs damals überhaupt nicht. Die Nobili, die venezianischen Adligen, waren zu diesem Zeitpunkt so unvorstellbar reich, dass der Doge sogar Gesetze gegen die Prunksucht erlassen musste. Doch nur die Familien zählten zu den Nobili, deren Namen im Libro d’Oro, im goldenen Buch der Stadt, vermerkt waren.«
Francesca zog erstaunt eine Augenbraue hoch. »Ein goldenes Buch?«, fragte sie und stieß genervt die Luft aus. So langsam hatte sie wirklich genug von ominösen Büchern …
»Das goldene Buch wurde von den Avogadori geführt. Nur wer in diesem Buch stand, genoss in Venedig die vollen politischen Rechte und durfte am Großen Rat teilnehmen. Eine Aufnahme in das Patriziat, wie es die Medici-Familie sicherlich angestrebt hat, war leider nicht möglich. Eure Familie hatte niemals eine Chance, in Venedig die gleiche Macht zu erlangen wie in Florenz.«
»Aber wieso hat dann nicht einer unserer Vorfahren einfach eine der Nobili geheiratet?«, warf Gianna ein.
»Auch das war verboten«, meinte Salvatori bedauernd. »Wie gesagt, die Nobili grenzten sich nach außen hin ab. Die Avogadori achteten streng darauf, dass niemand unter seinem Stand heiratete.«
»Das war ja wie das Kastensystem in Indien«, stellte Francesca schockiert fest. Dieses Thema hatten sie erst kürzlich in der Schule durchgenommen.
Salvatori lächelte. »Nun, ganz so schlimm war es sicherlich nicht, aber der Vergleich ist wohl auch nicht ganz unzutreffend. Doch jetzt sollten wir endlich zum Grund eures Besuches kommen!« Er warf Gianna und Francesca einen fragenden Blick zu. »Was ist denn euer Anliegen? Sucht ihr nach jemand Bestimmtem?«
»Wir haben im Palazzo ein sehr altes Buch gefunden, das die Initialen A. D. M. trägt«, erklärte Gianna und hielt sich damit relativ nahe an die Wahrheit. »Nun möchten wir gerne wissen, ob es einem unserer Vorfahren gehört hat.«
»Interessant«, murmelte Salvatori und begann, geschäftig die Unterlagen durchzublättern. »Wir schauen uns am besten die Ahnenliste an, die ist übersichtlicher als die Ahnentafel und in ihr sind mehr Daten erfasst.« Seine Augen begannen vor Eifer zu leuchten. »Wisst ihr, wann das Buch entstanden ist? Könnt ihr den Zeitraum ungefähr eingrenzen?«
Gianna schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider können wir das nicht mit Bestimmtheit sagen.«
»Versuchen Sie es mal zwischen 1600 und 1650«, schlug Francesca vor. Hatte sie in den Büchern ihres Großvaters nicht gelesen, dass in diesem Zeitraum eine italienische Übersetzung des Necronomicons entstanden war? Einen Versuch war es wert.
»Was für ein Zufall, dass es sich ausgerechnet um diesen Zeitrahmen dreht«, meinte Salvatori. »Wie mir euer Großvater nämlich erzählt hat, begann erst im 17. Jahrhundert die bedauernswerte Pechsträhne der Medicis. Leonardo hatsich deswegen ausgiebig mit den Familienmitgliedern dieser Zeit beschäftigt.«
Gespannt verfolgte Francesca, wie Salvatoris Finger über die Liste flog. So viele Namen, so viele Menschen und Schicksale – und alle standen sie mit ihr in Verbindung. Was für ein Leben mochten sie wohl geführt haben? Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie weit ihr Familienstammbaum in die Vergangenheit zurückführte und wie eng er mit dieser Stadt verknüpft war. Auch wenn die Medicis, wie Salvatori behauptet hatte, nie eine wichtige Rolle in Venedig gespielt hatten, ergriff sie trotzdem ein Gefühl des Stolzes.
»Spürt ihr das auch?«, stieß Gianna plötzlich mit gepresster Stimme aus.
Francesca und Salvatori sahen fragend zu ihr auf, doch ehe sie etwas erwidern konnten, fühlten auch sie es.
Der Boden unter ihren Füßen begann zu beben! Die Fensterscheiben vibrierten in einem hohen, sirrenden Ton und die Lampe über ihren Köpfen schwang wie von Geisterhand angestoßen vor und zurück.
»Schnell, unter den Tisch mit euch!«, rief Salvatori und drückte die beiden mit überraschender Kraft nach unten. Auf Händen und Knien krochen Francesca und Gianna unter die Tischplatte, während Salvatori sich Schutz suchend unter den Türrahmen stellte. Die Regale
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