Die Schattenträumerin
Mund ihren Vorfahren anzugaffen. Abgesehen davon waberte der Nebel des Necronomicons unheilvoll umher, bedeckte Werkzeuge, Bodenplatten und die flackernde Lampe. Der große Kamin und die Spiegel des Ballsaals waren von Francescas Standpunkt aus kaum noch zu erkennen. Die Berührung des magischen Zeichens hatte dem Necronomicon zu neuer Kraft verholfen. Im Grunde hatte sie genau das getan, was die Stimmen des Necronomicons von ihr gewollt hatten: Sie hatte die Worte des Bösen ausgesprochen und damit das Portal in die Welt der Jenseitigen geöffnet. Dank Francescas Vorsichtsmaßnahmen war dies natürlich nur für kurze Dauer und die Totenbeschwörungbesaß auch nicht die gleiche magische Kraft wie die Herbeirufung eines Fluchdämons, trotzdem erfüllte der Anblick des lebendig wirkenden Nebels Francesca mit einem unguten Gefühl.
Sie räusperte sich. »Bist du Alessandro Demetrio di Medici?«
Er schwieg so lange, dass Francesca schon befürchtete, er habe sie nicht verstanden.
»Wer will das wissen?«, fragte er schließlich.
Oje, das fing ja gut an! Anscheinend gehörte er nicht zu den redseligen Typen. Zu ihrer Überraschung hatte Alessandro jedoch eine warme, angenehme Stimme, die völlig im Gegensatz zu seinem verhärmten Äußeren stand.
»Wenn ja, bin ich deine Nachfahrin – Francesca di Medici. Seit deiner Hinrichtung sind knapp vierhundert Jahre vergangen.«
Zum ersten Mal zeigte sich ein flüchtiges Lächeln auf seinem Gesicht. »Es gibt die Familie Medici somit noch«, meinte er mit sichtlichem Stolz. »Das ist gut! Wir tragen einen großen Namen, die Medicis haben in der Geschichte Italiens Großes bewirkt. Als Medici ist man dazu verpflichtet, die Tradition fortzuführen.«
Alessandro sah sich erneut um und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Abgesehen von dir kann ich kaum etwas außerhalb dieses Pentagramms erkennen. Alles ist seltsam verschwommen. Wo bin ich hier?«
»Im Ballsaal des Palazzos der Medicis.«
Alessandro zuckte sichtlich zusammen.
»Venedig existiert noch?«, stieß er mit bebenden Nasenflügelnhervor. »Aber was ist mit meinem Fluch? Warum hat er nicht gewirkt?«
Unfreiwilligerweise hatte er damit schon Francescas erste Frage, die sie an ihn hatte stellen wollen, beantwortet. Es stimmte also: Alessandro war tatsächlich derjenige, der den Fluch über Venedig ausgesprochen hatte.
»Nyarlath hat den Fluch noch nicht zu Ende gebracht. Dafür ist ein Teil deines schrecklichen Fluches auf die Medici-Familie zurückgefallen. Seit deinem Tod verfolgt er alle erstgeborenen Medicis. In meiner Generation bin ich die Einzige, die den Namen Medici noch trägt, und deshalb werde ich seit Jahren von diesem Fluch gequält. Aus diesem Grund habe ich dich heraufbeschworen«, erklärte sie ihm. »Nyarlath erpresst mich. Er will das Necronomicon haben oder er wird Venedig zerstören. Aber ich glaube nicht, dass er das tun wird, immerhin würde es …«
»Sei dir da nicht so sicher«, fiel er ihr unwillig ins Wort. »Nyarlath muss sehr geschwächt sein. Er stirbt, wenn er zu lange von seinen Brüdern getrennt ist – und bevor das geschieht, wird er den Fluch lieber beenden und in seine Welt zurückkehren.«
Seine Worte waren für Francesca wie ein Schlag ins Gesicht. Sie war davon überzeugt gewesen, dass Nyarlaths Erpressung nur eine Finte war und er seine Drohung nicht wirklich in die Tat umsetzen würde.
»Du hast meine Ausgabe des Necronomicons?«, fragte Alessandro. »Auf der das Wappen der Medicis eingeprägt ist?«
Francesca nickte.
»Das ist eine gute Nachricht!« Er schnalzte zufrieden mit der Zunge. »Ich habe es mithilfe eines Zaubers auf unsere Familie geprägt, sodass es immer wieder in die Hände eines Medicis zurückfindet«, erzählte er. »Der Rat der Zehn wollte das Necronomicon unbedingt in seinen Besitz bekommen. Allein darum ging es ihnen. Sie wollten sich seine Macht aneignen, um die Republik Venedig unantastbar zu machen. Mit meiner öffentlichen Hinrichtung wollten sie demjenigen Angst einjagen, bei dem ich das Buch versteckt haben könnte. Aber sie fanden das Necronomicon nie.« Er stieß ein triumphierendes Lachen aus. »Noch bevor sie mich festnehmen konnten, habe ich es aus dem Fenster in den Kanal geworfen. Ich wusste schließlich, dass es wieder zu unserer Familie zurückfinden würde.«
Mit wachsender Ungeduld hatte Francesca ihm zugehört. »Alessandro, wir haben nicht viel Zeit. Ich habe eine besondere Art der Beschwörung gewählt, die nur wenige
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