Die Schattenträumerin
Minuten aufrechterhalten werden kann«, sagte sie eindringlich. »Du musst mir verraten, ob man den Fluch, den du ausgesprochen hast, wieder aufheben kann. Sonst wird Venedig untergehen.«
»Aber das ist genau das, was ich will!«, rief er hasserfüllt. »Deswegen habe ich Nyarlath beschworen und auf Venedig gehetzt. Diese Stadt voller Lug und Trug soll vernichtet werden!«
Erschrocken wich Francesca zurück. Sie hatte nicht bedacht, dass Alessandro noch genauso voller Rache sein musste wie am Tag seines Todes.
Sie fuhr herum. Was war das? Hatte sie sich diese Bewegungnur eingebildet? Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie den schwarzen Nebel ab. Sie hatte geglaubt, einen fremdartigen Schatten zu sehen. Etwas, das flink wie ein Tier umherhuschte.
»Dafür hat sich meine Seele mit dem Necronomicon verbunden, seit Jahrhunderten lebe ich in der Hölle«, fuhr Alessandro fort. »Doch wenn der Fluch erfüllt wird, ist es das Leiden wert! Nur um ihre eigene Vergänglichkeit zu vergessen, erschufen die Venezianer diese prunkvolle Stadt. Damit etwas von ihnen die Ewigkeit überdauert, während sie selbst schon lange zu Staub zerfallen sind. Deswegen wird es mir eine Freude sein, Venedig endgültig vernichtet zu sehen. Die Stadt, die mir das genommen hat, was ich am meisten auf Erden liebte …« Er verstummte.
»Du meinst Madelina.«
Alessandro nickte traurig. Plötzlich wirkte er so verletzlich, dass Francesca sogar Mitleid mit ihm bekam.
»Ich kann deine Wut und Trauer verstehen, doch heute ist Venedig eine andere Stadt als zu deiner Zeit. Es gibt keine Nobili mehr und auch kein goldenes Buch. Wegen deines Fluches mussten so viele Menschen leiden, auch deine eigenen Nachkommen …«
Francesca stockte. Da war es wieder! Dieses Mal war sie sich sicher, eine Bewegung im Nebel gesehen zu haben. Außer ihr und Alessandro war noch etwas hier … Nun hörte sie auch einen tiefen, grollenden Laut, der jeden Muskel ihres Körpers vor Angst erstarren ließ. Sie hatte dieses Geräusch schon einmal gehört – kurz vor dem Angriff in Fiorellas Zimmer. Ein Jenseitiger war in den Ballsaal gelangt!
»Ich habe nicht geahnt, dass der Fluch auf unsere Familie zurückfällt«, verteidigte sich Alessandro. »Nie hätte ich gewollt, dass Unschuldige leiden müssen. Aber diese Stadt hat diesen Fluch verdient, sie ist durchdrungen vom Bösen! Jedenfalls war sie es zu meiner Zeit«, fügte er etwas unsicher hinzu.
Immer mit der Ruhe, versuchte Francesca ihre aufsteigende Panik im Zaum zu halten. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren! Im Schutzpentagramm war sie in Sicherheit. Auch wenn es einem Jenseitigen gelungen war, hier aufzutauchen, musste er durch die vielen Spiegel des Ballsaals geschwächt sein. Denn genau deswegen hatte sie diesen Ort für die Beschwörung gewählt: Die angelaufenen Spiegel des Salone da ballo besaßen eine Silberbeschichtung und schwächten alle magischen Kräfte. Jedenfalls hoffte sie das.
Sie versuchte, sich auf Alessandro zu konzentrieren und nicht dem Teil in ihrem Inneren zu gehorchen, der in blinde Panik verfallen wollte.
»Wem nützt es denn, wenn du mir heute deine Hilfe verweigerst? Alle, die du damals bestrafen wolltest, sind längst tot. Alessandro, ich weiß, dass du nicht böse bist! Wenn du Unschuldige mit deiner Rache bestrafst, bist du auch nicht besser als die Nobili oder der Rat der Zehn. Meinst du, Madelina hätte das gewollt?«
Alessandro schüttelte langsam den Kopf. An seinem gepeinigten Gesichtsausdruck erkannte Francesca, dass sie mit ihrem Argument ins Schwarze getroffen hatte.
»Ich habe sie damals mit genau der gleichen Formel heraufbeschworen, wie du es heute mit mir getan hast. DochMadelina hat verlangt, dass ich sie wieder zurückschicke und ihre Seele ruhen lasse. Ich musste ihr versprechen, dass ich sie und unsere Liebe ziehen lasse, damit ich meinen Frieden finden kann. Leider ist es mir nicht gelungen, ihr diesen letzten Wunsch zu erfüllen«, fügte er kaum hörbar hinzu.
Das Flackern der Baustellenlampe wurde stärker. Wie in einem Blitzlichtgewitter ging das Licht so schnell an und aus, dass Francesca immer nur für einen kurzen Moment ihre Umgebung erkennen konnte. Sie musste gegen den Drang ankämpfen, einfach die Augen zu schließen. Der Jenseitige war ganz in ihrer Nähe. Sie hörte sein aufgeregtes Keuchen, roch seinen Gestank nach Verwesung. Dieses Mal war der Geruch so intensiv, dass sich Francesca für einen Moment nach vorne beugen musste, um sich
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