Die Schattenwelt
den Nebel und spuckte hohe Flammen in den nächtlichen Himmel. Ein gewaltiges Kreischen erhob sich, das Schreien Hunderter Vampirfledermäuse. Sie schossen durch die Luft wie kleine Kometen, bevor sie zu Boden stürzten.
Jonathan krümmte sich und versuchte, Luft zu holen.
»Was zur Hölle war das?«, keuchte Raquella.
»Carnegies Spezialmischung«, erwiderte Jonathan lachend. »Ohne sie geht er nie aus dem Haus.«
»Das hat er mit seinem Flachmann gemacht?«
»Ich erkläre dir das ein anderes Mal.«
Er legte die Hände trichterförmig an den Mund, rief, so laut er konnte, und erwartete, dass der Wermensch erscheinen würde.
»Carnegie?«
Niemand antwortete.
»Ricky? Wo steckst du?«
Stille.
»Carnegie! Komm schon. Wir sind hier drüben!«
Der Nebel blieb stumm.
»Jonathan …«, sagte Raquella sanft.
»Wir müssen sie suchen!«
»Wie? Wir können nichts sehen. Wir müssen weiter.«
»Nein! Sie haben unser Leben gerettet!«, schrie Jonathan. Seine Augen füllten sich mit Tränen, aber Raquella drückte fest seine Hand.
»Wir haben keine Zeit. Willst du vor Vendetta bei deinem Vater sein? Die kommen schon zurecht. Los! Das da sieht wie ein Weg aus. Wenn ich mich nicht täusche, führt er zum hinteren Tor.«
Sie liefen weiter. Die Zeit schien stillzustehen, während sie durch den seltsamen Nebel liefen. Jonathan konzentrierte sich auf jeden einzelnen Schritt und versuchte, auf dem Weg zu bleiben. Er lauschte verzweifelt nach einem Heulen oder Rufen, irgendeinem Zeichen dafür, dass Carnegie und Ricky überlebt hatten. Aber er konnte nichts hören.
Gerade als er glaubte, keinen Schritt mehr weitergehen zu können, tauchte wie durch ein Wunder ein kunstvoll verziertes Tor im Nebel vor ihnen auf.
»Wir sind da. Das ist das hintere Tor.«
Raquella trat einen Schritt vor, drückte gegen die Gitterstäbe und das Tor schwang mit einem Quietschen auf. Sie betraten eine breite Allee. Raquella zitterte und wickelte sich enger in ihren Umhang.
»Und jetzt, Jonathan?«
»Raquella, wie komme ich nach London? Nach Lightside? Mein Dad ist in Gefahr. Wo ist der nächstgelegene Übergang?«
Raquella sah in prüfend an.
»Ich kenne nur einen in Gehweite. Aber es wird nicht einfach werden.«
Jonathan zuckte mit den Schultern.
»Was soll das heißen?«
24
Die Straßen waren menschenleer und das Klappern von Raquellas Absätzen auf dem Bürgersteig hallte zwischen den großen Häusern von Savage Row wieder. Zwei Mal war Jonathan fest davon überzeugt gewesen, in der Nähe Schritte gehört zu haben, hatte Raquella in die nächste Einfahrt gezogen und sich mit ihr hinter eine schützende Mauer geduckt. Beide Male erschien niemand aus dem Nebel, und nach dem dritten Mal erklärte sie ihm, dass das Wetter seinen Sinnen einen Streich gespielt hätte. Er war sich da nicht so sicher. In Darkside lauerte immer etwas Böses irgendwo.
Schließlich blieb Raquella stehen und deutete in die Ferne. Vor ihnen traf die Allee auf eine Querstraße, und an der Kreuzung befand sich ein kleines, rundes Gebäude, das Jonathan an ein Observatorium erinnerte. Ein fahles Licht schien durch seine Glaskuppel und erhellte ein Schild, auf dem »Savage Row« zu lesen stand.
»Was ist das?«
»Die U-Bahn-Haltestelle von Savage Row.«
Jonathans Augen weiteten sich.
»Die U-Bahn-Haltestelle?«
»Ja. Die Darkside-Linie.«
»Darkside hat eine U-Bahn?«
»Wir sind nicht ganz so rückständig, wie du glaubst. Sonst würde man eine Ewigkeit zum Ödmoor brauchen.«
»Ödmoor? Das klingt wie ein Scherz.«
Sie lachte.
»Wenn das hier vorbei ist, fahren wir mal dorthin. Man muss es gesehen haben, um es glauben zu können.«
Raquella marschierte zu dem Gebäude hinüber und ging durch die große Drehtür. Dahinter verbarg sich ein runder Raum, der wie eine elegante Hotellobby aussah. Es gab bequeme Lehnstühle, schwere Teppiche und ausladende Topfpflanzen. Ein elegantes Messingdrehkreuz bewachte einen Durchgang, über dem »Zu den Zügen« geschrieben stand. Brennende Fackeln reihten sich an den Wänden auf und tauchten den Raum in ein warmes Licht. Jonathan pfiff durch die Zähne.
»Nicht schlecht.«
»Na ja, wir sind in Savage Row. Nicht alle U-Bahn-Haltestellen in Darkside sind so schön wie diese hier.«
»Kann ich mir vorstellen. Ziemlich ruhig hier, oder?«
Raquella ließ ihren Blick durch den leeren Raum schweifen.
»Ja, nun, ähm … die Darkside-Linie hat einen ziemlich schlechten Ruf. Nur wenige Leute fahren mit
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