Die Schatzinsel: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
nicht mehr als ein Liederbuch.«
»Aber doch noch so viel also?« rief Dick mit einer gewissen Freude. »Na, ich denke, das ist immer noch etwas wert!«
»Hier, Jim – hier hast du ’ne Kuriosität!« sagte Silver und gab mir das Papier.
Es war ein rundes Stück Papier, ungefähr von der Größe eines Kronentalers. Die eine Seite war weiß, denn es war aus dem letzten Blatt herausgeschnitten; auf der anderen Seite standen ein paar Verse aus der Offenbarung – darunter diese Worte, die mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben sind: »Draußen sind Hunde und Mörder.« Die gedruckte Seite war mit Holzkohle geschwärzt; die schwarze Farbe begann bereits herunterzugehen, wie ich an meinen Fingern sah. Auf der weißen Seite stand, ebenfalls mit Holzkohle geschrieben, nur das eine Wort: »Abbgesetzt!« [7]
Dieses kuriose Papier liegt in diesem Augenblick vor mir; aber von der Schrift ist keine Spur mehr zu sehen, außer einer einzigen Schramme, wie wenn einer mit dem Daumennagel darüber hingefahren wäre.
Dies war das Ende der nächtlichen Beratung.
Jeder bekam einen Schluck zu trinken, und wir legten uns alle schlafen. Silvers Rache bestand darin, daß er George Merry draußen Posten stehen ließ und daß er ihm mit dem Tode drohte, wenn er nicht seine Pflicht täte.
Es dauerte lange, bis ich ein Auge schließen konnte, und der Himmel weiß, ich hatte Gedanken genug, die mich beschäftigten: da war der Mann, den ich am Nachmittag getötet hatte; da war meine eigene gefährliche Lage; und da war vor allen Dingen das merkwürdige Spiel, das ich Silver in diesem Augenblick treiben sah: mit der einen Hand die Meuterer zusammenzuhalten und mit der anderen nach jedem möglichen und unmöglichen Mittel zu greifen, mit der Kajütspartei seinen Frieden zu machen und sein erbärmliches Leben zu retten.
Silver selbst schlief friedlich und schnarchte laut. Aber so schlecht der Mann war, er tat mir doch im Herzen leid, wenn ich an die düsteren Gefahren dachte, die ihn umgaben, und an das ehrlose Ende am Galgen, das ihn erwartete.
Dreißigstes Kapitel
Auf mein Ehrenwort
Ich wurde geweckt – oder vielmehr, wir wurden alle geweckt, denn ich konnte sogar die Schildwache sich aufraffen sehen, die an den Türpfosten gelehnt eingeschlafen war – durch eine helle laute Stimme, die uns vom Waldsaum her anrief:
»Blockhaus ahoi! Hier ist der Doktor!« Und richtig – es war der Doktor. Obwohl ich froh war, den Klang seiner Stimme zu hören, so war meine Freude doch nicht ungemischt. Ich dachte mit Beschämung an meine ungehorsame Aufführung und mein heimliches Weglaufen; und da ich sah, wohin es mich gebracht hatte – in welche Gefahren und in welche Gesellschaft – da schämte ich mich, ihm ins Gesicht zu sehen. Er mußte bei dunkler Nacht aufgestanden sein, denn der Tag war kaum angebrochen; und als ich an meine Schießscharte lief und hinaussah, sah ich ihn bis an die Knie in dichtem Nebel stehen, wie damals Silver.
»Sie, Herr Doktor! schönsten guten Morgen!« rief Silver, der im Nu wach war und von bester Laune strahlte. »In aller Herrgottsfrühe! Aber der Vogel, der früh aufwacht, kriegt sein Futter, wie das Sprichwort sagt. George, mach dich auf die Beine, mein Sohn, und hilf Doktor Livesey auf Deck! Mit Ihren Patienten steht’s gut, Doktor – alle wohl und munter!«
So schwatzte er, die Krücke unter dem einen Arm und die andere Hand gegen die Wand des Blockhauses gestützt – in Stimme, Benehmen und Mienen ganz der alte John.
»Wir haben auch ’ne richtige Überraschung für Sie, Herr,« fuhr er fort. »Wir haben einen kleinen Gast hier – hehe! Einen neuen Gast zum Schlafen und Essen, Herr, frisch und munter wie ’ne Fiedel – hat geschlafen wie ein Superkargo, dicht an der Seite vom alten John, die ganze Nacht!«
Dr. Livesey war inzwischen über die Palisaden geklettert und schon ziemlich dicht an Silver herangekommen, und ich konnte die Unruhe in seiner Stimme bemerken, als er fragte:
»Doch nicht Jim?«
»Jim, wie er leibt und lebt!« rief Silver.
Der Doktor blieb stehen, doch sagte er kein Wort, und es dauerte mehrere Sekunden, bis er imstande zu sein schien, weiter zu gehen.
»Hum,« sagte er schließlich, »erst die Pflicht und dann das Vergnügen – wie er selber vielleicht hätte sagen können, Silver. Erst wollen wir uns mal Eure Patienten ansehen.«
Einen Augenblick später war er in das Blockhaus eingetreten. Er nickte mir nur mit einem grimmigen Lächeln zu und
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