Die Scherenfrau
gut, wie ich sie kannte, und mehr durch ihre spontanen Eingebungen. Über jeden redete sie und steckte ihn in eine Schublade, nur mir wurde die Ehre zuteil, dass sie neue Facetten an mir entdeckte. Ich war der Einzige, dem sie tiefgründige Fragen stellte, der Einzige, den sie ausforschte, um etwas zu finden, das sie nie bekommen hatte. Doch sie schrak davor zurück. In uns beiden kroch die Angst hoch in jener Nacht. Der einzigen Nacht, woraufhin wir den Deckel wieder zumachten und so taten, als hätten wir nichts bemerkt.
»Lass uns die Sache nicht komplizierter machen, als sie ist, Kumpel«, sagte sie in jener Nacht zu mir.
Ich schloss die Augen, die ich seither als Einziges offen haben durfte, und dachte, dass ich damals ein ziemlicher Dummkopf gewesen und es dafür reichlich spät war. Denn komplizierter hätten die Dinge gar nicht sein können.
7
Das blasse Violett der Morgendämmerung ist bis in den Wartesaal gedrungen. Die Weihnachtskrippe leuchtet noch, aber die Berge verschwinden nicht mehr in der Nacht. Der Alte, der mir Gesellschaft leistet, schläft mit offenem Mund. Ein Speichelfaden tropft auf sein Hemd. Mir kommt es so vor, als wäre ich ebenfalls für einen Moment eingenickt. Vielleicht waren es nur ein paar Sekunden, doch lang genug, um einen trockenen Mund und einen schweren Kopf zu bekommen. Nichts rührt sich auf den Gängen. Die Dienst habende Schwester schläft noch immer fest in der Ecke hinter dem Pult. Meinen Körper hat plötzlich Kälte befallen, ich habe die Arme um mich geschlungen, wobei es sich anfühlt, als käme die Kälte nicht von außen, sondern dringe aus dem Inneren – genau in dem Moment, in dem ich merke, dass im Krankenhaus ungewöhnliche Stille herrscht.
»Sie sind alle gestorben«, denke ich.
Als ich aber merke, dass »alle« Rosario mit einschließt, scharre ich mit den Füßen, huste und wippe mit dem Stuhl, um die Stille zu durchbrechen.
Der Alte öffnet die Augen, wischt sich den Speichel ab und schaut mich an. Aber seine Lider sind zu schwer, um der Müdigkeit Herr zu werden. Der Stuhl der Krankenschwester quietscht ebenfalls. Wir sind noch am Leben, und Rosario bestimmt auch. Ich hatte Lust gehabt, Emilio anzurufen, doch sie ist wieder verflogen.
»Hast du keine Angst vor dem Tod, Rosario?«, hatte ich sie gefragt.
»Vor meinem nicht«, antwortete sie, »vor dem der anderen schon. Und du?«
»Ich hab vor beidem Angst.«
Ich wusste nicht, ob sie die Tode meinte, die sie verursacht hatte, oder die ihrer geliebten Wesen. Denn ich glaube, dass ihr mit den Verbrechen wiederkehrendes Übergewicht mehr mit Angst als mit Trauer über den Verlust zu tun hat. Als der Schock darüber, dass Rosario kaltblütig mordete, vorüber war, spürte ich ein Vertrauen und eine Sicherheit, die unerklärlich waren. Meine Angst vor dem Tod ließ nach. Bestimmt, weil ich selbst mit ihm in Berührung kam.
»Ich stelle ihn mir als Hure vor«, so beschrieb sie ihn mir, »im Minirock mit roten Pumps und ärmellosem Shirt.«
»Und mit dunklen Augen«, sagte ich zu ihr.
»So ‘n bisschen wie ich, was?«
Es störte sie weder, ihm zu ähneln noch ihn zu verkörpern. Es gab eine Phase, in der sie sich das Gesicht mit weißer Grundierung schminkte, sich die Lippen und die Augen schwarz anmalte und auf ihre Wimpern dunkelbraunen Puder auftrug, so als hätte sie Augenringe. Sie trug Schwarz, mit Handschuhen bis zu den Ellbogen, und um den Hals hängte sie sich ein umgedrehtes Kruzifix. Das war, als sie den Satansfimmel hatte.
»Der Teufel ist ein dufter Typ«, sagte sie.
Ich fragte sie, was mit María Auxiliadora, dem Divino Niño und San Judas Tadeo geschehen sei. Sie erzählte mir, Johnefe hätte ihr gesagt, dass man Unterstützung auf allen Seiten suchen müsse, bei den Guten und bei den Schlechten, und dass es für alle ein Unterkommen gibt.
»Aber Johnefe findet, dass der Teufel am großzügigsten ist«, erklärte sie.
Sie sagte mir, dass das ja nichts Neues sei und dass sie uns mitnehmen würde, damit wir mal sähen, wie es sich damit verhielt, und dass er wirklich ein starker Typ sei, besser als jede Droge.
»Was?! Du willst uns zum Teufel mitnehmen?«, sagte ich, ohne aus meiner Angst einen Hehl zu machen.
»Einen Dreck wirst du«, sagte Emilio. »Rechnet nicht mit mir.«
»Mit mir auch nicht«, sagte ich.
»Ihr Schlappschwänze«, sagte Rosario zu uns. »Mit euch Idioten bin ich wirklich angeschmiert.«
Wir gingen nie hin. Allein die Geschichte, dass man ein Glas mit
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