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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Franco
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»Rosario Tijeras, unsere Mutter«, »Kastrier mich mit Küssen, Rosario T«, »Rosario Tijeras, Präsidentin, Pablo Escobar, Vizepräsident«. Die Mädchen wollten sein wie sie, und wir hörten von ein paar, die María del Rosario, Claudia Rosario oder Leidy Rosario getauft wurden, und eines Tages erzählte uns unsere Rosario von einer Amparo Tijeras. Ihre Geschichte erreichte das gleiche Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion wie die ihrer Bosse. Selbst ich, der die geheimen Winkel ihres Lebens kannte, geriet mit den Versionen durcheinander, die man von außen zugetragen bekam.
    »Emilio, hast du mitgekriegt, was alles so erzählt wird?«
    »Sag nichts, Alter«, stöhnte er, »ich dreh bald durch.« Auch bei unseren Leuten sickerten undurchsichtige Geschichten von Rosario durch, Geschichten, die einen Fetzen Realität aufgriffen, der Rest wurde dann, je nach Bedarf des Gesprächspartners, dazugedichtet. In einigen tauchten wir ebenfalls auf. Am Ende kamen mir so viele Dinge zu Ohren, dass ich sie nie zusammenbrachte, um sie ihr, die es unendlich genoss, zu erzählen.
    »Erzähl, Kumpel, was sagen sie noch über mich?«
    »Dass du zweihundert Leute umgebracht hast, dass du Backenzähne aus Gold hast, dass du für jede Nummer eine Million Pesos kassierst, dass dir auch Frauen gefallen, dass du im Stehen pinkelst, dass du dir die Brüste und den Hintern hast operieren lassen, dass du keine Göre, sondern ein Mann bist, dass du vom Teufel ein Kind bekommen hast, dass du der Boss aller sicarios von Medellín bist, dass du in Geld schwimmst, dass du jeder, die dir nicht gefällt, den Kopf scheren lässt, dass du gleichzeitig mit mir und Emilio schläfst … na, ist das nicht genug? Was wäre, wenn all das wahr wäre?«
    »Alles nicht«, sagte sie zu mir, »aber die Hälfte schon.«
    Sie hätte es gern gesehen, wenn all das gestimmt hätte. Ich auch. Denn das Gerücht über mich gehörte zu den Dingen, die niemals stattgefunden hatten. So wie das mit dem Sohn des Teufels, was gelogen war, denn Rosario konnte keine Kinder bekommen. Zusammen mit den künstlichen Titten und dem künstlichen Hintern, was gelogen war, denn ich habe sie angefasst, nur einmal, in einer einzigen Nacht, und weder davor noch danach habe ich jemals etwas Echteres, etwas Knackigeres, etwas Schöneres angefasst. Auch dass Rosario ein Mann sei, war gelogen, denn es gab kein weiblicheres Geschöpf als sie.
    »Was sagen sie noch so, Kumpel, erzähl mehr.«
    »Bloß Schwachsinn. Stell dir mal vor, sie behaupten, ich sei in dich verliebt.«
    »Bah! Denen fällt auch gar nichts mehr ein«, sagte sie und versetzte mir damit den Todesstoß.
    »Stell dir das mal vor«, sagte ich sterbend.
    Die Liebe richtet einen zu Grunde, die Liebe macht feige, sie macht einen klein, zieht einem den Boden unter den Füßen weg, lässt einen verblöden! Einmal, nach einem ähnlichen Erlebnis, schloss ich mich auf der Toilette einer Diskothek ein und verpasste mir selbst so lange Ohrfeigen, bis mein Gesicht knallrot war. Peng! Weil du ein Dummkopf bist. Peng! Weil du ein Arschloch bist. Hier hast dus! Weil du ein Angsthase bist. Je mehr ich mich schlug, desto wütender wurde ich auf mich. Richtig blöd kam ich mir allerdings vor, als ich warten musste, bis das Brennen aus den Backen verschwunden war, damit ich rausgehen konnte. Außerdem lief ich wegen der schmerzenden Kiefer zwei Wochen mit halb offenem Mund herum. Ich schwor mir, allen Mut zusammenzunehmen und ihr zu sagen, was ich für sie empfand. Danach schloss ich mich noch oft: in der gleichen Toilette ein, auf der ich mich geohrfeigt hatte, um die Worte einzuüben, mit denen ich ihr meine Liebe gestehen würde:
    »Rosario, ich bin in dich verliebt.«
    »Rosario, ich will dir schon seit langem etwas sagen.«
    »Rosario, rat mal, wer in dich verliebt ist.«
    Ich sagte ihr weder diese noch andere Worte, die ich mir zurechtgelegt hatte. Frustriert kehrte ich zurück, um mir vor dem Spiegel, dem Einzigen, der mir zuhörte, eine Tracht Prügel zu verpassen.
    »Ziehst du dir Koks rein?«, fragte mich Emilio.
    »Nein, wieso?«
    »Na, dieses seltsame Rumhängen auf dem Klo.«
    »Ich hab ‘ne schwache Blase«, sagte ich zu ihm.
    »Und rote Backen«, fügte er hinzu.
    Ich habe nie begriffen, warum weder sie noch irgendjemand anders es jemals bemerkten. Emilios Verdächtigungen gingen über zwei dumme Fragen nicht hinaus. Wenn sie es erfahren hätte, dann hätte sie die Nähe und das Vertrauen, das sie zu mir hatte, nicht

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