Die Scherenfrau
keiner ließ mehr ein Wort verlauten oder rührte sich vom Fleck. Johnefe machte uns Zeichen, wir sollten im Badezimmer verschwinden, und Ferney kletterte in den Schrank. Dann mussten wir aufmachen, denn sie drohten damit, die Polizei zu rufen.«
»Was geht hier vor?«, fragte der Typ vom Hotel.
»Was vorgeht? Gar nichts geht hier vor, Herr Geschäftsführer«, antwortete Johnefe.
»Und die Schreierei?«, wollte der vom Hotel wissen.
»Schreierei? Das muss der Fernseher gewesen sein, Herr Geschäftsführer.«
»Wir haben Frauen weinen hören.«
»Frauen weinen doch wegen jeder Kleinigkeit, Herr Geschäftsführer«, erklärte Johnefe.
Beinahe jedes Mal, wenn Rosario mir etwas von diesem Kaliber erzählte, unterbrach sie sich, um eine Zigarette anzuzünden. Die ersten Züge machte sie schweigend, den Blick ins Leere gerichtet und gefangen in einer Erinnerung, die sie zum Rauchen zwang.
»Der Schreck saß so tief«, sagte sie nach einer Weile, »dass wir uns den Rest des Abends in Zeichensprache verständigten. Wir Mädels stellten keine weiteren Fragen und gingen schlafen. Die Jungs blieben beisammen und kippten ein paar Drinks. Am nächsten Morgen verließen sie ziemlich früh das Hotel. Weder Deisy noch ich hatten was davon mitgekriegt. Wir merkten allerdings, dass sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatten. So um zehn Uhr morgens tauchte ein Typ mit einem geilen Jeep auf und brachte uns zu einer Finca bei Melgar. Du kannst dir die Finca nicht vorstellen, Kumpel, eine Villa vom Feinsten, mit mehreren Schwimmbädern, Tennisplätzen, Pferden, Wasserfällen und Bediensteten. Sie sah eher wie ein Clubhaus aus. Deisy und ich zogen uns einen Tanga an und legten uns in die Sonne. In der Nacht, so um zwölf, tauchten die Jungs auf. Sie waren betrunken, sahen aber hochzufrieden aus. Sie lachten wie irre, umarmten sich, kniffen uns, bestellten noch mehr Drinks, packten Koks aus und machten drei Tage lang Party. Deisy und ich hatten beschlossen, keine weiteren Fragen zu stellen, aber ich begriff, Kumpel, dass sie ihre Arbeit inzwischen erledigt hatten.«
Rosario zündete eine Zigarette an der anderen an. Diesmal dauerte das Schweigen etwas länger, waren die Züge langsamer, der Blick verlorener. Manchmal wechselte sie sogar, wie bei diesem Mal, plötzlich das Thema, und von einer Kugel kam sie auf ein Lied zu sprechen, von einem Toten ging sie über zu einer Bemerkung über die Hitze, die neuerdings in Medelín herrschte. Es war besser, nicht zu insistieren, man musste geduldig auf das nächste Kapitel warten, bis die Hauptfigur bereit war, wieder auf die Bühne zu treten.
»Was für eine Hitze in Medelín herrscht«, sagte sie, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte.
»Das ist hier bald wie im Backofen«, kommentierte ich.
Es stimmte, dass sich die Stadt aufgeheizt hatte. Die Gefahr nahm uns den Atem. Wir standen knietief in Leichen. Jeden Tag weckte uns eine mehrere hundert Kilo schwere Bombe, ließ die gleiche Zahl verkohlter Leichen und von den Gebäuden nur noch die Gerippe zurück. Wir versuchten uns daran zu gewöhnen, doch durch den Lärm der Explosionen wurden wir unsere Angst nicht mehr los. Viele verließen die Stadt, auf beiden Seiten. Die einen flohen vor dem Terror und die anderen vor der Vergeltung für ihre Taten.
Für Rosario war der Krieg die Ekstase, die Verwirklichung eines Traums, die Explosion der Instinkte.
»Dafür lohnt es sich echt, hier zu leben«, sagte sie.
Es hieß, sie gegen uns. Sie rächten sich Auge um Auge für all die Jahre, in denen wir gegen sie gestanden hatten. Mit Rosario in unserer Gruppe oder uns in ihrer, wussten wir nicht, welche Position wir beziehen sollten. Vor allem Emilio, denn ich hatte nichts mehr zu entscheiden, ich musste die Bande akzeptieren, die einzig mögliche Wahl, über die stets das Herz entscheidet. Trotzdem ergriffen wir für keine der beiden Seiten Partei. Wir beschränkten uns darauf, Rosario in ihrem freien Fall zu folgen. Weder sie noch wir kannten den Grund für die Kugeln und Toten. Wie sie genossen wir das Adrenalin und ihren lasterhaften Lebenswandel und liebten sie jeder auf seine Art. Wir waren viele, und jeder suchte hinter ein und derselben Frau etwas anderes, Ferney, Emilio, die Oberharten und ich, der ihr am nächsten und am fernsten war.
»Ich kann nicht begreifen, warum«, sagte sie einmal zu mir, »aber du bist anders als die anderen.«
Auch wenn mir das überhaupt nichts nützte, lernte Rosario mich ebenfalls kennen. Nicht so
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