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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Franco
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dicht am Körper abgefeuert wurde, an sie geklammert zu Boden sanken, als wollten sie sie gemeinsam mit dem tödlichen Kuss mit sich fortnehmen.
    Ich erinnere mich an Emilios Worte, nachdem er sie zum ersten Mal geküsst hatte. Stets machte er viel Wind um die ersten Erfolge bei seinen Eroberungen. Das erste Mal Hand in Hand, der erste Kuss, das erste Mal im Bett. Doch diesmal klang sein Kommentar nicht triumphierend, sondern eher verwirrt.
    »Ihre Küsse schmecken irgendwie komisch.«
    »Wonach denn?«, fragte ich ihn.
    »Weiß nicht. Es ist ein ziemlich komischer Geschmack«, sagte er zu mir, »wie von einer Toten.«

9
     
    Emilio und ich gingen seit der Schulzeit miteinander durch dick und dünn. Es war ein Pakt ohne Worte, ohne Blutsbruderschaft, auch ohne alkoholselige Versprechen. Es war einfach eine gegenseitig wachsende Sympathie, die uns eine lebenslange Freundschaft bescheren sollte.
    Ich habe in ihm den mutigen Part gefunden, den ich selbst nicht besitze. Ich war nicht der Typ, der sich so mir nichts, dir nichts ins Ungewisse stürzte. Aber genau das war Emilio. Und ich glaube, dass er in mir den Feigling fand, der in ihm nicht existierte, den er aber brauchte, um es sich im Fall des Falls ein zweites Mal zu überlegen. In jenen Jahren mochte ich ihn nicht nur, ich bewunderte ihn auch. Emilio hatte die Frauen, das Geld, die Drinks, das Lebensgefühl. Ich sah, wie er sich völlig frei bewegte, ohne moralische Fußangeln, ohne Schuldgefühle. Er genoss jeden Tag wie ein Geschenk. Ich hingegen versuchte ängstlich, bei diesem Lebensstil, der für uns junge Leute ein Muss war, mitzuhalten. Doch insgeheim, und ganz für mich allein, stürzte ich mich in existenzialistische Gedanken und Bücher, die mit meiner Alltagswelt, mit Emilios Plänen und schließlich auf brutale Art mit den gesellschaftlichen Normen kollidierten. So kam es, dass Emilio, außer mein Freund zu sein, mich in meiner Respektlosigkeit bestärkte. Und was soll ich sagen über die Begegnung mit ihr, unserem größten Skandal, unserer Rosario Tijeras.
    Heute bewundere ich Emilio zwar nicht mehr, aber ich mag ihn noch immer. Obwohl seit damals nicht viel Zeit vergangen ist, machten die Umstände deutlich, wer wir wirklich waren. Das zeigt sich erst im Laufe der Jahre und führt dazu, dass die einen weiterkommen als die anderen. Allerdings glaube ich, dass meine Zuneigung zu ihm nicht überlebt hätte, wären da nicht die ganzen Erinnerungen an unser Eintauchen in das Leben gewesen. Die gemeinsamen Schuljahre, unser Katz-und-Maus-Spiel mit den Priestern, der erste Film nur für Erwachsene, das erste Pornoheft, das Masturbieren, die ersten Freundinnen, das erste Mal, die Geheimnisse unter Freunden, das erste Besäufnis, die Nachmittage auf der Terrasse, an denen wir nichts taten, außer über Musik, Fußball und solche Sachen zu reden. Das erste Mal bekifft und halb tot vor Lachen, während wir buñuelos aßen, das Häuschen, das wir in Santa Elena mieteten, um in Ruhe rauchen und trinken zu können, um Frauen abzuschleppen und mit ihnen zu erwachen. Dasselbe Häuschen, in dem Emilio seine erste Nacht mit Rosario verbrachte und ich danach auch. Dieses einzige Mal.
    Sie war es, die uns aus dieser Jugend riss, die wir lange nicht aufgeben wollten. Sie war es, die uns in die Welt stellte, die unseren Weg sprengte, die uns zeigte, dass das Leben anders war als das Bild, das man uns davon gemalt hatte. Es war Rosario Tijeras, durch die ich das Höchste empfand, wofür ein Herz schlagen kann. Sie machte mir klar, dass meine früheren Verzweiflungszustände einem Altherrenwitz glichen, um mir dann die selbstmörderische Seite der Liebe zu zeigen, diese Extremsituation, in der man nur noch durch die Augen des anderen sieht, wo man zum Dreckfresser wird, wo die Vernunft sich verabschiedet und man dem Erbarmen der geliebten Person ausgeliefert ist.
    Jedes Mal, wenn ich in meinen Erinnerungen an Rosario versinke, glaube ich, dass ohne mein Schweigen alles einfacher gewesen wäre. Emilio erfuhr nie etwas von meiner Angst, wenn wir im Dunkeln leere Flaschen auf die Treppen der Schule stellten, damit die Priester sie in der Dämmerung umstießen. Er erfuhr auch nie von meiner Angst, wenn wir ins ›E1 Dorado‹ gingen, um uns Pornofilme anzuschauen. Nichts erfuhr er von meiner Scham, als er mir vorschlug, mit dem ersten Playboy gemeinsam zu masturbieren. Weder erfuhr er, wonach mein erster Kuss schmeckte, noch von dem verfrühten Orgasmus beim ersten Mal. Und

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