Die Scherenfrau
spät an«, dachte ich, »wie alles, was mich betrifft.«
Aber vielleicht wusste ja die ganze Welt Bescheid, und niemand hat mir etwas gesagt, damit alles so weitergeht, damit keinem wehgetan wird, damit niemand den anderen verliert, damit die Kette nicht bricht, die uns miteinander verband. Ich habe immer gedacht, dass es in der Liebe keine Paare gibt, nicht einmal ein Dreiecksverhältnis, sondern eine Schlange, in der einer den liebt, der vor ihm ist, und dieser liebt wiederum den Vordermann und so fort, und der hinter mir liebt mich, und den liebt wiederum der, der in der Schlange der Nächste ist und so weiter. Aber immer liebt man den, der einem den Rücken zukehrt. Und den Letzten in der Reihe, den liebt gar keiner.
»Mein Sohn ist da drin«, unterbrach der Alte meine Gedanken erneut.
»Er war halb tot, als ich ihn herbrachte. Sie hätten ihn beinahe umgebracht.«
Ich dachte, sein Sohn könnte einer von Rosarios Freunden sein. Es hätte Ferney sein können, wenn ich nicht genau gewusst hätte, dass der tot ist. Es könnte einer von den vielen Typen sein, die ich auf ihren Partys kennen gelernt hatte, und obwohl ich nicht mit Bestimmtheit sagen kann, dass Rosario ihn wiedererkannt hätte, kann ich schwören, dass er genau gewusst hätte, wer sie war.
»Wenn Ihr Sohn aufwacht«, wandte ich mich an den Alten, »dann sagen Sie ihm, dass Rosario Tijeras neben ihm liegt.«
»Rosario ist hier?«, fragte er überrascht.
»Sie kennen sie?«, fragte ich noch viel überraschter.
»Um Himmels willen!«, sagte er angesichts der Tatsache.
»Was ist los mit ihr? Was haben sie mir ihr gemacht?«
»Das Gleiche wie mit Ihrem Sohn«, sagte ich zu ihm.
»Das Gleiche nicht. Es ist etwas ganz anderes, Schussverletzungen am Körper einer Frau zu sehen. Es tut mehr weh«, sagte er. »Die Ärmste. Wir haben sie schon lange nicht mehr gesehen, man hat uns sogar erzählt, dass man sie längst umgebracht hätte.«
Ich weiß nicht, weshalb mich ein Schaudern durchfuhr, als er das sagte, wo doch Rosario und der Tod zwei untrennbare Themen waren. Man konnte nicht sagen, wer wen verkörperte, aber sie waren ja auch ein und dasselbe. Wir wussten, dass Rosario jeden Morgen aufstand, aber wir konnten nie sicher sein, dass sie abends zurückkommen würde. Wenn sie für ein paar Tage verschwand, rechneten wir immer mit dem Schlimmsten. Dem frühmorgendlichen Anruf aus irgendeinem Krankenhaus, aus der Leichenhalle, von der Straße, und man würde uns fragen, ob wir die Person kennen würden und dass sie unsere Telefonnummern in der Handtasche bei sich trug. Zum Glück war sie es, die anrief. Mit einer liebevollen Begrüßung, einem »Ich bin wieder da« oder »Ich bin zurück«, glücklich, uns zu hören. Meine Seele kehrte in den Körper zurück, ich konnte wieder ruhig atmen, es war mir egal, um wie viel Uhr sie anrief. Fast immer weckte sie mich, aber es war mir egal. Das Wichtigste war zu wissen, dass es ihr gut ging, dass sie wieder da war, auch wenn sie mich nur anrief, um das Terrain um Emilio zu sondieren. Es war mir egal, ich war der Einzige, der sie freundlich empfing, denn ich weiß, dass Emilio und wahrscheinlich auch Ferney ihre Freude nicht zeigten. Sie konnten es einfach nicht.
»Wenn alle Männer nur so wären wie du, Kumpel«, sagte Rosario zu mir. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie beschissen sich die anderen auffuhren, Emilio, Johnefe, Ferney, alle, nur du nicht.«
Das war der einzige Moment, in dem ich mich freute, dass ich nicht gemeint war. Ich hatte das Gefühl, der wichtigste Mensch in ihrem Leben zu sein. Es war eine Genugtuung, die nur ein paar Minuten anhielt, lang genug, um mich als Rosarios Mann zu fühlen, der Mann ihrer Träume, der, den sie hätte, wenn es die anderen nicht gäbe, und an diesem Punkt waren die zwei Minuten auf Wolke sieben um, und ich landete unsanft mit dem Hintern auf dem Boden der Tatsachen, neben den anderen, die Rosario auf die eine oder andere Art besaßen.
»Und die Oberharten?«, fragte ich sie. »Behandeln sie dich nicht beschissen?«
»Wer? Die Jungs?«
»Soweit ich weiß, sind es keine Jungs mehr«, sagte ich zu ihr.
»Schon, aber wir nennen sie so«, erklärte Rosario.
Ich weiß nicht, wen sie mit »wir« meinte. Aber ich vermutete, obwohl ich Vermutungen hasse, dass sie die anderen Rosarios meinte, die Gefährtinnen ihrer »Abenteuer«. Genauso mutig und genauso schön.
»Alle verhalten sich beschissen, alle«, bekräftigte sie, »und vielleicht wirst dus auch tun,
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