Die Scherenfrau
kein Wort von meinen Gefühlen zu ihr, denn mein Schweigen war so umfassend wie meine Liebe. Ich erweckte großes Misstrauen und finsteren Argwohn, aber nie kriegte ich den Mund auf, um zu sagen, ich liebe dich, ich sterbe, schon seit einer ganzen Weile sterbe ich wegen dir.
»Was ist los mit dir, Kumpel?«, fragte mich Rosario.
»Ich sterbe«, gab ich zur Antwort.
»Bist du krank?«
»Ja.«
»Und wo tuts weh?«
»Überall.«
»Und warum gehst du dann nicht zu ‘nem Arzt?«
»Es ist unheilbar.«
Mehr traute ich mich nicht. Ich hoffte, dass sich Rosario wie durch ein göttliches Wunder in mich verlieben würde, dass sie von der Liebe sprechen oder es nur einen Kuss brauchen würde, um zu Tage zu fördern, was unsere verschlungenen Zungen nicht auszusprechen wagten.
»Wie hast du Emilio kennen gelernt?«, fragte sie diesmal.
»Schon als Kind«, sagte ich, »in der Schule.«
»Wart ihr immer so eng befreundet?«
»Immer.«
Hinter Rosarios Fragen spürte ich einen Argwohn, der über bloße Neugier hinausging. Sie nahm sich viel Zeit für solche einfachen Fragen. Mein Verdacht bestätigte sich, als ich merkte, worauf sie damit abzielte.
»Habt ihr euch nie gestritten?«, wollte sie wissen.
»Nie.«
»Nicht einmal wegen einer Frau?«, bohrte Rosario.
»Nicht einmal deswegen.«
»Stell dir vor, Kumpel«, endete sie, »wenn ich Emilio mit dir ‘n Paar Hörner aufsetzen würde …«
Gewöhnlich reagiere ich auf solche Situationen mit einem idiotischen Lachen. Es ist eine ziemlich feige Reaktion, um nicht Stellung beziehen zu müssen, das komplette Gegenteil von dem Lächeln, dass mir Rosario bei dieser Gelegenheit schenkte, als sie ihre Befragung beendet hatte. Es wirkte recht bestimmt, Resultat irgendeiner Intrige und irgendwie unterbrochen, denn ihre Lippen schlossen sich ganz plötzlich, so als wollte sie einem Plan nicht vorgreifen. Dann öffneten sie sich wieder, genau wie in jener Nacht, als Rosario stöhnend und schweißgebadet unter mir erneut lächelte.
Ich habe lange darüber gegrübelt, was Rosario eigentlich damit beabsichtigte. Ich fragte mich, weshalb zum Teufel sie Emilio mit mir untreu sein wollte, wenn sie es schon mit den Oberharten war und darüber hinaus wusste, dass Emilios Reaktion über einen bloßen Wutanfall nicht hinausgehen würde, der sich mit ein paar Gramm Koks wieder legte. Es war klar, dass ein Seitensprung mit dem besten Freund tödliche Wunden hinterlassen würde. Aber warum wollte sie Emilio noch mehr wehtun? Warum wollte sie uns gegeneinander aufbringen? Nachdem ich in alle Richtungen Mutmaßungen angestellt hatte, geschah das Schlimmste von allem: Ich gab mich falschen Illusionen hin.
»Rosario will mir etwas andeuten«, dachte ich.
»Rosario will etwas mit mir anfangen«, kam mir häufig in den Sinn.
»Rosario ist in mich verliebt«, war die endgültige Lüge.
Ohne dass etwas geschehen war, spürte ich bereits, dass ich meinen besten Freund verraten hatte. Ich konnte ihn nicht mehr wie früher anschauen, konnte mit ihm nicht mehr normal über sie reden, vermied es, ihren Namen auszusprechen, damit bloß kein verliebter Klang in der Stimme mich verriet. Wenn wir doch über sie sprachen, schaute ich in die andere Richtung, damit er nicht das Glimmen in meinen Augen sah.
Ich bin heute ganz sicher, dass meine Liebe unentdeckt blieb und niemand irgendetwas davon bemerkte. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, dass sie Verdacht schöpfen würde, dass irgendeine Geste ihr verraten hätte, was meine Feigheit mich nicht aussprechen ließ. Vielleicht hätte sie dann die Initiative ergriffen oder mich auf das Thema angesprochen, keine Ahnung. Wenn sie aus dem OP wieder rauskommt und es ihr besser geht, erzähle ich ihr vielleicht alles. Vor allem jetzt, wo so viel Zeit vergangen ist, könnte ich es ihr wie eine Geschichte aus der Vergangenheit erzählen, und wir würden sogar darüber lachen, und sie würde mir vorwerfen, dass ich nicht früher damit rausgerückt war. Vielleicht würde sie eingestehen, dass sie mich auch geliebt und dass es ihr ebenfalls Angst gemacht hatte, es zu bekennen.
Vielleicht darf ich später zu ihr hineingehen. Vielleicht nehme ich ihre Hand und erzähle ihr alles, damit sie es als Erstes nach dem Aufwachen hört.
»Ist es Ihre Freundin oder Ihre Schwester?«, fragte mich der Alte gegenüber, der wach geworden ist.
»Weder noch«, gab ich ihm zur Antwort. »Eine Freundin.«
»Man merkt, dass Sie sie sehr lieb haben.«
»Merkt man mir ziemlich
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