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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Franco
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sonst niemanden. Niemanden, der bereit wäre, meinen Plan zu unterstützen. Außerdem glaube ich, dass ihr genauso daran interessiert seid, etwas zu ändern. Ich möchte euch etwas vorschlagen, womit wir die Armut endgültig hinter uns lassen.«
    Emilio und ich wurden starr, als hätten wir einen Stock verschluckt, bestürzt von dem Schlag, den uns ihre letzten Worte versetzt hatten. Zum ersten Mal an diesem Nachmittag sahen wir sie lächeln und mit weit aufgerissenen Augen auf unsere Reaktion warten. Jetzt war es wirklich an der Zeit, das Schweigen zu brechen.
    »Entschuldige, Rosario«, sagte ich zu ihr, »aber soweit ich weiß, ist keiner von uns arm.«
    »Ich habs dir doch schon mal gesagt, Kumpel.« Sie stand auf und fing an, hin und her zu laufen. »Ich habs dir doch schon mal gesagt: All das hier ist nur geliehen, und wenn ich am wenigsten damit rechne, werden sie es mir wegnehmen. Und du, hast du was vorzuweisen? Und du, Emilio? Also entschuldigt mal, aber von euch hat doch keiner einen Arsch in der Hose, alles ist von euren Papas, das Auto, die Klamotten, alles haben sie euch gegeben. Ihr habt ja nicht einmal ein beschissenes Apartment, wo ihr wohnen könntet, oder täusche ich mich?«
    »Und was willst du?«, fragte Emilio herausfordernd.
    »Wenn du mich vielleicht ausreden lässt, dann erklär ichs dir«, antwortete sie im selben Ton.
    Die Versammlung heizte sich langsam auf. Wir waren alle aufgestanden und ziemlich unruhig. Da wir ihre Schule kannten, war es nicht schwierig, sich auszumalen, was Rosario im Schilde führte.
    »Es ist ganz einfach«, erklärte sie. »Es ist ein guter Deal. Ich hab schon alle wichtigen Kontakte, die hier und die in Miami.«
    »Die von wo?!«, unterbrach Emilio.
    »Ach, Emilio, sei doch nicht blöd!«, sagte Rosario. »Dafür braucht man eben die Kontakte hier und dort, oder gedenkst du, allein mitzumischen?«
    »Weder allein noch mit sonst jemandem!«, gab er ihr zur Antwort. »Was bildest du dir eigentlich ein, Rosario?«
    »Und was glaubst du, woher der Koks und das bazuco kommen, die du dir reingepfiffen hast?! Glaubst du, das fällt vom Himmel, oder was?«
    Für einen Moment dachte ich, sie würden aufeinander losgehen. Ich hatte keinen Schimmer, wie ich sie dazu hätte bringen können, nicht in dieser Lautstärke zu streiten. Außerdem wusste ich aus Erfahrung, wie teuer mich eine Einmischung zu stehen kommen konnte.
    »Hör zu, Rosario«, sagte Emilio, »du hast dich bei der Partnerwahl getäuscht. Vergiss nicht, dass wir anständige Leute sind.«
    »Anständig! Huuu!«, entgegnete sie wütend. »Ein paar Vollidioten seid ihr, sonst gar nichts.«
    »Lass uns gehen«, sagte Emilio zu mir.
    Ich blickte zu Rosario, aber sie merkte es nicht einmal. Wutschnaubend lehnte sie mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen an der Wand. Emilio öffnete die Tür und ging hinaus. Ich wollte etwas sagen, aber ich wusste nicht, was. Und bevor ich überhaupt den Mund aufmachen konnte, sagte sie zu mir:
    »Mach schon, Kumpel, hau ab.«
    Ich zuckte hilflos mit den Schultern und ging mit gesenktem Blick hinaus. Emilio stand vor dem Aufzug und drückte unablässig den Abwärtsknopf. Bevor sich die Türen öffneten, sahen wir, wie Rosario den Kopf heraussteckte und uns von der Wohnungstür aus nachschrie:
    »So ist das also! Bildet euch ein, etwas Besseres zu sein, dabei seid ihr nur ein paar Arschlöcher.«
    Mit einem Knall schlug sie die Tür zu, als wir in den Aufzug stiegen. Wir waren so geladen, dass wir nicht einmal merkten, dass wir nach oben fuhren.
     
    Ich wartete ein paar Tage, bevor ich sie anrief, obwohl ich noch immer nicht wusste, was ich sagen wollte. Es ging darum, die Gemüter zu besänftigen, dabei etwas über Rosarios Pläne herauszufinden und zu sehen, ob sich mein Verdacht bestätigte, und sie davon abzuhalten, irgendeine Verrücktheit zu begehen. Da ihre Reaktionen nicht vorhersagbar waren, wunderte es mich gar nicht, dass ich sie in bester Laune erwischte. Sie erzählte mir, sie würde gerade etwas Leckeres kochen, und lud mich ein.
    »Was für ein Zufall, Kumpel«, sagte sie, »ich hab gerade an dich gedacht.«
    Auch wenn ich an diesen Zufall nicht recht glauben mochte, war ich kurze Zeit später bei ihr, und wir aßen etwas, das weder einen Namen noch Geschmack hatte. Aber es machte mir Freude zu sehen, wie sie dieses Experiment genoss. Danach setzten wir uns zusammen ans Fenster, um auf die nächtliche Stadt zu schauen, auf die blinkenden Lichter, die Rosario so

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