Die Scherenfrau
uns in verschiedene Zimmer. Sie stießen mich auf den Boden, stellten einen Fuß auf meinen Rücken und hielten mir Fotos vor die Nase. Es waren Fotos von ihnen, den Oberharten, Rosarios Bossen. Sie zeigten mir alle. Jedes Foto begleitet von Fragen, wo sie sich befänden, was ich mit ihnen zu schaffen hätte, weshalb ich sie verstecken würde, wann ich sie zuletzt gesehen hätte. Jeder Frage wurde mit dem Fuß auf meinem Rücken Nachdruck verliehen. Männer kamen und gingen, nur Schritte und Flüstern waren zu hören. Von Rosario bekam ich nichts mit. Ich fragte nach ihr und bekam keine Antwort. Dann kam jemand anders herein und zeigte dem, der lauter sprach, etwas mit den Worten: »Schau mal, was wir gefunden haben.« Ich hob den Kopf. Es war eine Pistole, die von Rosario, »Sie hat keine Papiere«, fügte der andere noch hinzu, dann war es wieder still, bis der mit der Befehlsstimme sagte: »Führt sie ab«, und ich dachte, dass ich sie jetzt sehen würde. Aber so war es nicht. Ich weiß nicht, ob sie sie als Erste abführten. Ich sah sie jedenfalls nicht, als sie mich fortbrachten. Auch später nicht, nachdem meine Familie mir aus der Patsche geholfen hatte, und auch nicht, als ich nach ihr fragte und man mir erzählte, andere Leute hätten ihr rausgeholfen. Ich sah sie nicht mehr wieder. Weder am nächsten Tag noch als ich zu ihrer Wohnung fuhr und der Portier mir erzählte, dass sie verreist sei. Ich sah sie nicht mehr wieder bis zu dieser Nacht, als ich sie aufgelesen und hierhergebracht habe. Nach drei Jahren, als ich mich bereits an ihr Verschwinden gewöhnt hatte, als die Erinnerungen an sie bereits verblasst waren. Bis heute, bis zu genau diesem Augenblick, in dem ein Arzt erscheint, ich glaube, es ist der aus der Notaufnahme. Ich sehe, wie er mit der Krankenschwester spricht. Er zeigt auf mich. Er zielt auf mich mit seinem Finger, als wäre er der kalte Lauf einer Pistole. Er zielt auf mich. Er kommt auf mich zu, der Mundschutz klemmt ihm unter dem Kinn, er hat Bartstoppeln im übernächtigten Gesicht und geht langsam mit schwebendem Gang. Er schaut mich an, während er näher kommt. Seine Augen sind rot und müde, er hat Blut auf seinem Kittel. Er ist es, jetzt bin ich mir sicher. Er hat sie in Empfang genommen. Er zeigt nicht mehr auf mich. Jetzt bin ich mir sicher, jetzt verstehe ich. Ich halte mir die Ohren zu, um nicht zu hören, was er mir gleich sagen wird. Ich kneife die Augen zu, um die Worte, die ich nicht hören will, nicht von seinen Lippen abzulesen.
16
»Sogar der Tod steht dir gut, Rosario Tijeras.« Etwas anderes fällt mir nicht ein, als ich sie da liegen sehe. Ich habe es nicht fertig gebracht, das Tuch hochzuheben. Irgendjemand anders hat es getan. Und wenn man es mir nicht gesagt hätte, würde ich glauben, sie schliefe. So schlief sie immer. Äußerlich ruhig, was sie in wachem Zustand nie war. »Sogar der Tod steht dir gut.« Ich hatte sie nicht so schön in Erinnerung gehabt. Die Zeit hatte angefangen, sie auszulöschen. Vielleicht werde ich irgendwann einmal dem Leben dankbar sein für diesen Augenblick, denn wäre ich nicht hier gewesen, dann wäre ihr Gesicht aus meinem Gedächtnis verschwunden. Ich würde sie so gerne küssen, mich an den Geschmack ihrer Küsse erinnern. »Deine Küsse schmecken wie nach einer Toten, Rosario Tijeras.« Emilio hatte mich bereits darauf hingewiesen, und ich konnte mich später selbst davon überzeugen. Ich sagte es ihr, als ich sie küsste, als wir plötzlich anfingen, uns weiß der Kuckuck weshalb zu beschimpfen, nachdem wir uns geliebt hatten, als wollten wir uns für die Sünde bezahlen lassen oder weil es ihre Art zu lieben war oder weil die Liebe eben so ist. Es hätte genügt, dem Alkohol die Schuld zu geben. Es war nicht nötig, sich zu demütigen, keiner von beiden war schuld, und wenn, dann beide, wie es eben so ist.
»Und du, Kumpel? Hast du dich schon einmal verliebt?«
Ich erinnere mich, dass sie ihre wenigen Fragen in einem kindlichen Ton stellte. In einer seltsamen Mischung aus Mädchen und Frau, wobei sie diesen schmeichlerischen Ton wählte, mit dem die Frauen versuchen, dich einzuwickeln. Ich gab ihr eine Antwort. Ganz nah an ihrem Gesicht, denn während wir uns Fragen stellten, waren wir ganz nah beisammen. Deshalb musste ich die Stimme nicht heben, um ihre Frage mit Ja zu beantworten. Und sie fragte mich ganz leise: »Und in wen?«, und obwohl sie die Antwort kannte, sagte ich mit noch leiserer Stimme: »In dich.« Eine
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