Die Schicksalsgabe
Sollte ich nicht mit ihr nach Süden ziehen?
Eilends verließen die drei ihr Lager, um so schnell wie möglich zu erfahren, woher die Händler kamen und wohin sie unterwegs waren und welch exotische Waren und Passagiere sie mit sich führten. Bei der vorhergehenden Karawane, die hier durchgekommen war, hatte sich herausgestellt, dass sie die persönliche Bibliothek eines Partherfürsten beförderte. Wie Ulrika und ihre Freunde bei dieser Gelegenheit erfahren hatten, wahrte der Fürst, wenn er auf seinen Reisen seine Bibliothek mitnahm, den Überblick über diese 117 000 Bücher dadurch, dass er seine Kamele auf die Einhaltung der Reihenfolge des Farsi-Alphabeths abgerichtet hatte.
Als sich Ulrika dem lautstarken Durcheinander von Kamelen, Pferden und Männern näherte, vernahm sie die durchdringende Stimme von Zeroun dem Armenier. »Ich kann nur sagen, meine Freunde, dass ich euer Heimweh verstehe! Das verspüren wir doch alle! Ich sehne mich ja auch gelegentlich nach meinem Heimatland! Aber ich sag euch was: Dadurch, dass man an etwas festhält, was einem lieb und teuer ist, verankert man sich in einem fremden Land. Das ist der
Schlüssel
.«
Ulrika blieb wie angewurzelt stehen.
Seine Stimme hallte wie Donner über das Gelände, über den Lärm von brüllenden Kamelen und krakeelenden Männern hinweg. »Vor allem ein Mann wie du, Herr, der du ins Unbekannte ziehst, auf der Suche nach irgendeinem Ziel. Gewiss doch, du magst ungemein zielgerichtet sein, konzentrierst dich auf das, was du erkunden willst – aber wenn du nicht an etwas festhältst, was für dich von Bedeutung ist, dann bist du nicht mit ganzem Herzen bei deiner Suche. Etwas hält dich zurück, nicht wahr? Egal, wie sehr du dich bemühst?«
Jetzt merkte Ulrika, dass Zeroun nicht den Neuankömmling ansah, sondern an ihm vorbei seinen Blick auf
sie
gerichtet hatte.
Aber schon wandte er sich ab, legte seinem Gast den Arm um die Schultern. »Das ist der Schlüssel zum Erfolg in allen Dingen, mein Freund! Ich hoffe, du beherzigst meine Worte! Wo sie noch dazu kostenlos sind!« Sein schallendes Gelächter erstarb erst, als die beiden durch die Tür der Taverne verschwanden.
Versonnen schaute Ulrika ihnen nach, lief dann zurück zu ihrem Lager und überließ es Iskander und Veeda, die Karawane näher in Augenschein zu nehmen.
Zeroun hat recht!, sagte sie sich, als sie die Treppen hinaufeilte. Es war ihr bislang nicht bewusst gewesen, dass sie sich, wenn sie meditierte, stets zurückhielt, aus Angst, ihre umherwandernde Seele würde sich zu weit entfernen und verirren. Würde das Festhalten an etwas Gegenständlichem sie wirklich in ihrer realen Welt verankern, derweil ihr Geist sich zur anderen Seite vorwagte? War das der Schlüssel und Zeroun derjenige, der ihn ihr darbot, so wie die ägyptische Wahrsagerin es prophezeit hatte?
Sie wollte sofort die Probe aufs Exempel machen. Da sie beim Einzug der Karawane erst mit den Vorbereitungen für das Frühstück beschäftigt gewesen waren, hatte Ulrika seit dem Abend zuvor nichts gegessen – also lange genug gefastet. Und sie wusste genau, was der »Anker« sein würde – die Kammmuschel. Sie war hart und hatte scharfe Kanten und bedeutete ihr viel.
Diesmal setzte sie sich zum Meditieren nicht einfach irgendwo hin. Sie wollte so nahe wie möglich dort Platz nehmen, wo sich einstmals die Kristallenen Teiche befunden haben mochten. Aber sie entdeckte nichts, was auf einen ehemaligen Teich oder auf ein Bassin hätte hindeuten können. Keinerlei Abdrücke auf der Kalkterrasse. Schließlich sah sie ein, dass sie mit logischem Denken nicht weiterkam. Sie musste auf eine göttliche Eingebung warten; vielleicht wurde ihr dann eine Vision beschert.
Sie schlenderte zwischen den Säulen herum, verlangsamte ihren Atemrhythmus, betete flüsternd zur Großen Mutter. Ihre Hand umfasste die Kammmuschel. Wie rau sie auf einer Seite war und wie glatt auf der anderen! Sie konzentrierte sich auf die scharfe, gewellte Kante, fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Die Muschel in ihrer Hand wurde groß und schwer, drückte sie nieder. Verankerte sie, bis sie sich ausreichend sicher fühlte, ihren Geist hinaus ins Unbekannte zu schicken.
Mit schwindender Angst stellte sich eine neue Erkenntnis ein: Nicht nur Angst, auch andere Empfindungen ließen nicht zu, dass sich der Geist frei entfaltete. Zorn, Eifersucht, Kummer … Ulrika verstand, dass das Herz von diesen Schatten befreit werden musste, damit der Geist im Licht
Weitere Kostenlose Bücher