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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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wandeln konnte.
    Sie merkte, wie ruhig und gelassen sie wurde und wie sich schon bald ihre Füße wie mit einem ihnen eigenen Willen vorwärtsbewegten. Vor einem massiven steinernen Torbogen, der aus zwei mächtigen Säulen und einem quadratischen Deckstein bestand, blieb sie stehen. Auf der anderen Seite des Torbogens ging die flache Terrasse weiter; sie war übersät mit noch mehr Schutt und Gesteinsbrocken.
    Die Kammmuschel umklammernd, schloss Ulrika wieder die Augen, zügelte ihren Atem und flüsterte: »Ich bin hier. Ich bin verankert. Ich bin sicher. Ich schicke meine Seele hinaus in den Kosmos. Heilige Große Mutter, hör mich an …«
    Und eine Antwort gleich einem Windhauch, einem Seufzer drang von weither und doch ganz nah an ihr Ohr.
    Tritt hindurch …
    Ulrika öffnete die Augen, holte tief Luft, atmete langsam aus und schritt durch den Torbogen.
    Urplötzlich stand sie auf einer grünen Wiese unter einem grenzenlosen blauen Himmel. Sie spürte den Wind auf ihrem Gesicht, hörte das Blöken der in der Nähe grasenden Schafe. Wo war der steinerne Torbogen? Ulrika sah sich nochmals um, und da sie die Berge erkannte, die das Plateau umschlossen, konnte es eigentlich nicht anders sein, als dass sie in eine Zeit vor Erbauung der Stadt zurückgekehrt war.
    Sie blinzelte, weil die Sonne sie blendete, und nahm durch die belaubten Bäume auf der grasbedeckten Ebene unscharf die dunklen Umrisse von Säulen und eingestürzten Mauern wahr. Demnach befand sie sich noch immer in der Stadt der Geister.
    Sie konzentrierte sich. Umklammerte die Muschel, wiederholte ihr Gebet. Stellte sich ihre innere Seelenflamme vor, ihr flackerndes Licht. Nach und nach wurden Einzelheiten in der Landschaft deutlicher, Farben leuchteten, blendeten sie schließlich. Und wieder veränderte sich die Landschaft – sie stand in einem bewaldeten Paradies mit Zitterpappeln und flüsternden Springbrunnen. Schimmernde Teiche in allen Silber- und Blauschattierungen tauchten auf, und Ulrika wusste, dass sie die Kristallenen Teiche von Shalamandar gefunden hatte.
    Eine hochgewachsene schöne Frau, deren langes weißes Gewand in der Sonne leuchtete, trat vor sie hin.
    »Ich erkenne dich«, sagte Ulrika. »Du bist Gaia, die Ahnin von Sebastianus Gallus. Warum kommst du zu mir? Etwa wegen der Kammmuschel? Wohnst du in dieser Muschel?«
    »Ich bin dein Schutzgeist. Du hast dich an meine Worte gehalten, Tochter, du hast deine Lektion gelernt. Du bist nicht länger hochmütig, sondern inzwischen eine wahrhafte Sucherin. Deshalb bist du jetzt auf der Ebene deiner spirituellen Macht angekommen. Du besitzt die Schicksalsgabe, durch dich kann Verborgenes sichtbar gemacht werden. In jeder Generation wird ein Mensch mit dieser spirituellen Gabe geboren. Er oder sie findet und erkennt heilige Menschen und Orte, sogar heilige Gegenstände, auf dass andere sie aufsuchen können, um Trost und Ermutigung von den Göttern zu erhalten.«
    »Ja, jetzt begreife ich …«, stammelte Ulrika. Die mit Malereien geschmückte Höhle des cheruskischen Göttersehers im Rheinland – sie hatte gespürt, dass sie heilig und damit ein sicherer Zufluchtsort war. Iskanders Horn, das mit heiliger Asche gefüllt war und Ulrika einen Einblick in längst vergangene religiöse Rituale vermittelt hatte. Und was war mit Jakobs Grab am Salzmeer? Hatte Rachel ihren Ehemann in heiligem Boden bestattet?
    »Das ist mir bestimmt? Heilige Orte aufzuspüren?«
    »Es ist dein Schicksal, deine Bestimmung auf Erden, Tochter, die Verehrungswürdigen zu erkennen und der Welt von ihnen zu berichten. Deshalb wurdest du an den Ort deines Beginns zurückgebracht.«
    »Die Verehrungswürdigen! Wer sind sie?«
    »Du wirst sie erkennen, wenn du ihnen begegnest. Denk daran, Tochter, die Schicksalsgabe ist eine Gabe der Göttin und markiert den Beginn deines neuen Lebens. Mit dieser Gabe wirst du nochmals den dir bestimmten Weg beschreiten, und zwar von Anfang an, und diesmal darfst du nicht von ihm abweichen.«
    Die Teiche schwanden, Gaia verstummte, und Ulrika stand wieder auf der steinernen Terrasse in der Stadt der Geister. Tief beeindruckt von dem, was sie eben erlebt hatte, brauchte sie eine Weile, um sich zu sammeln und dann festzustellen, dass sie sich wie neugeboren fühlte, so als hätte sie lange geschlafen und einen belebenden Trank zu sich genommen. Jeder Muskel, jede Sehne ihres Körpers war von neuer Energie durchdrungen. Noch nie war ihr Verstand klarer gewesen. Das musste eine weitere

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