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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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näherte sich, offenbar ohne es zu merken, zusehends den umgestürzten großen Gesteinsbrocken.
    »Nimm dich in Acht, Veeda!«, rief Ulrika warnend.
    Auf Zehenspitzen, die Augen geschlossen, ein glückliches Lächeln auf den Lippen, sang das Mädchen weiter zu ihren Engeln.
    »Veeda!« Ulrika erhob sich vom Lagerfeuer. »Geh da weg. Du könntest dich verletzen.«
    Auch Iskander war aufgesprungen. »Veeda!«
    Sie hörte sie nicht. Mit heller, melodischer Stimme und den Blick vor der Wirklichkeit verschlossen, wirbelte Veeda mit dem Gedanken an goldene Wesen aus einer anderen Welt im Mondlicht herum.
    Als sie den umgestürzten Gesteinsbrocken gefährlich nahe kam, sprang Iskander auf.
    Allerdings konnte er nicht mehr verhindern, dass sie mit dem Schienbein eine Gesteinskante streifte. Sie schrie auf und taumelte. Iskander fing sie noch rechtzeitig auf, hielt sie fest. Überrascht schaute sie ihn an.
    Von ihrem Platz am Feuer erkannte Ulrika, was ihrer Meinung nach weder Iskander noch Veeda bewusst war: Wie sie sich ansahen und wie atemlos sich Veeda an Iskander klammerte, wie innig er sie an sich drückte und vor allem wie lange – all dies verriet, dass Iskander und Veeda verliebt waren.

26
    Während Iskander oben am Gebirgspass seine Nachtwache begann und den Feind, der auf der anderen Seite der Bergkuppe lagerte und auf seine Gelegenheit wartete, Rache zu üben, nicht aus den Augen ließ, ging Veeda zu Zerouns Karawanserei, die eine Meile von den Ruinen entfernt lag. Ulrika blieb allein inmitten der geborstenen Säulen und Treppen, die ins Nichts führten.
    Hier wollte sie meditieren. Wenn dieser Ort hier wirklich Shalamandar war, erhielt sie bestimmt Antworten. Denn hier hatten Wulf und Selene eine Rast eingelegt. Hier hatte Ulrikas Existenz begonnen.
    Sie suchte sich einen Platz auf der Kalksteinterrasse, hockte sich auf den Boden, überkreuzte die Beine, nahm eine entspannte Haltung ein. Auf das Frühstück hatte sie verzichtet, weil sie gemerkt hatte, dass Fasten ihre Konzentration tatsächlich erhöhte und sie wach hielt. Sie schloss die Augen, verlangsamte ihren Atemrhythmus und hob flüsternd an, zur Großen Mutter zu beten.
    Je länger sie betete, desto mehr stieg ihre Erwartung, die Kristallenen Teiche zu sehen. Bestimmt waren sie ein zauberhafter Anblick – glitzerndes süßes und kühles Wasser, das Geist und Auge erfrischte. Wie groß sie wohl waren und wie viele? Und woher kam das Wasser? Von Wasserfällen? Von Flüssen oder aus artesischen Brunnen?
    Ulrika öffnete die Augen. Nichts hatte sich verändert.
    Sie atmete tief durch, schloss wieder die Augen und begann von neuem, sandte ihre Gedanken hinaus ins Unbekannte, beschwor ihre Seele, den Kosmos zu erforschen, konzentrierte sich auf die Flamme, die in ihrem Inneren brannte. Aber nach einer Weile spürte sie nur das harte Gestein unter sich und Schmerzen im Rücken. Ihre Gedanken drifteten ab, ein Hungergefühl stellte sich ein.
    Morgen wollte sie es nochmals versuchen.

27
    »Ulrika«, sagte Veeda, »darf ich dir eine persönliche Frage stellen?«
    Sie trafen Vorbereitungen für das Frühstück; Iskander war noch unterwegs, um im Gestrüpp am Fuße der Berge nach Eiern zu suchen. Seit einem Monat hielten sie sich nun in der Stadt der Geister auf, hatten sich ein bequemes Lager in den Ruinen eingerichtet und beobachtet, wie auf den Bergen in der Ferne der erste Schnee fiel. Der Winter nahte. Bald könnten keine Karawanen mehr über die Bergpässe ziehen; dann wäre das Trio in diesem Tal eingeschlossen.
    Ein Tag verlief wie der andere. Iskander zog hinauf zum Gebirgspass, um von dort aus den Feind zu beobachten, der noch immer auf der anderen Seite lagerte. Veeda besserte Kleidung aus oder kochte mit Ulrika oder begab sich in die Karawanserei, wo sie sich mit gleichaltrigen Mädchen, die dort lebten, angefreundet hatte.
    Ulrikas tägliche Meditationen hatten noch immer keinen Erfolg gezeigt. Wenn dies wirklich der Ort war, an dem ihr Leben begonnen hatte, müsste sie mittlerweile Visionen gehabt, müsste erfahren haben, was es mit der Schicksalsgabe auf sich hatte und wann es für sie an der Zeit war, den ihr bestimmten Pfad einzuschlagen.
    Mit Blick auf die mit Schnee bestäubten Berge in der Ferne wurde ihr bewusst, dass sie sich bald entscheiden musste: zu bleiben und mit dem weiterzumachen, was sich bislang als vergebliche Mühe herausgestellt hatte – nämlich Antworten zu finden –, oder aber sich in der nächsten Karawane, die

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