Die Schicksalsgabe
lachte der Junge.
Als Timonides, vor Entsetzen gelähmt, Zeuge wurde, wie Blut aufspritzte und Knochen und Gehirnmasse durch die Luft schwirrten, fiel ihm ein, dass Seide von der Raupe des Maulbeerbaums produziert wurde. Und so erfüllte sich die Prophezeiung des Wahrsagers der Tsingling-Berge, die er aus dem Schulterblatt eines Ochsen gelesen hatte.
Sebastianus fand den Astrologen auf seinem Lager vor, von dem er apathisch zur Decke hinaufstarrte. Seine Augen waren rot und geschwollen, aber er weinte nicht mehr. Jetzt, da die Sonne untergegangen war und die Sterne am Himmel blinkten, hatte Timonides all seine Tränen vergossen.
»Ich habe beim Kaiser um Audienz nachgesucht«, sagte Sebastianus, »und er hat sie mir gewährt. Ich werde ihn bitten, uns zu gestatten, Luoyang zu verlassen. Hier können wir nicht länger bleiben. Ich trage die Verantwortung für das, was mit Nestor geschehen ist. Eigentlich hätte ich längst auf die Erlaubnis zur Heimreise dringen müssen. Ich kann nur hoffen, dass du mir verzeihst, alter Freund, es so lange hingenommen zu haben, dass man uns hier monatelang als Gefangene festhält.«
Timonides verharrte in Schweigen, und Sebastianus stand seufzend auf, um sich auf die Audienz vorzubereiten. Nachdem er das vorgeschriebene, langatmige Protokoll absolviert hatte, verbeugte er sich endlich vor Ming.
»Majestät«, begann er, »ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie klug und einfühlsam der Herrscher über Zehntausend Jahre seine Vasallen regiert, und ich sehe, dass sie unter seiner Herrschaft glücklich sind. Ich glaube, mein eigener Kaiser wäre daran interessiert, von dem weisen und mächtigen Herrscher des Himmels Kunde zu erhalten, und vielleicht kann er sogar von dem Gebieter über das Land der Blumen etwas lernen. Deshalb meine bescheidene Bitte, mir zu gestatten, in mein Land zurückzukehren und meinem Kaiser und allen hochrangigen Persönlichkeiten ein Bild von der klugen und einfühlsamen Regentschaft des Herrschers über Zehntausend Jahre zu vermitteln. Es wird mir eine große Ehre sein, den Namen deiner Majestät von hier bis Rom zu preisen und den Menschen, denen ich unterwegs begegne, Furcht und Respekt für den Namen des Erhabenen auf dem Thron deiner Majestät einzuflößen.
Die Hochherzigkeit deiner Majestät ist größer als die Anzahl der Sterne am nächtlichen Himmel. Deine Majestät ist der gnadenreichste Mann auf Erden. Erweise mir die Gunst, der Welt von der Großmut des Herrschers des Himmels zu berichten. Gestatte mir, mich damit zu rühmen, dein demütiger Gast und Empfänger deiner Güte und deines Mitgefühls gewesen zu sein. Ich möchte in mein Land zurückkehren und dies alles meinem eigenen Kaiser zur Kenntnis bringen.«
Ming sagte nichts. Sein Gesicht unter den mit Perlen bestückten Fransen seiner Krone blieb ausdruckslos.
»Im Gegenzug für diese großmütige Gunst, Majestät«, fuhr Sebastianus fort, »werde ich dir die Macht und die Stärke Roms aufzeigen. Roms Armeen gleichen den Meeren, seine Soldaten sind wie feuerspeiende Drachen, seine Kriegsmaschinerie wie Blitz und Donner. Wenn ich dies sage, dann weder um Verrat an meinem Land zu begehen noch mit etwas zu prahlen, was nicht der Wirklichkeit entspricht – sondern um dem Herrscher des Himmels Gelegenheit zu bieten, sich mit einem bedeutenden Partner zu verbünden, der fast so mächtig ist wie er selbst. Persien ist der Feind Roms. Und ich weiß, dass das Volk der Han Persien unterwerfen möchte. Gemeinsam könnten Rom und China Persien einkreisen und dieser auf so niedriger Stufe stehenden Nation zeigen, wie bedeutend wir sind.«
Auch als die darauffolgende Stille sich in die Länge zog, bewahrte Sebastianus Haltung. Da Mings Gesicht keine Regung verriet, fragte er sich, ob er zu weit gegangen war. Aber da wandte sich der junge Kaiser an seine Gemahlin und besprach sich im Flüsterton mit ihr.
Schließlich ließ ihm der Herrscher über Zehntausend Jahre durch die Übersetzer mitteilen: »Unser ehrenwerter Gast ist einer Entscheidung zuvorgekommen, die wir bereits vor vielen, vielen Wochen getroffen haben. Es ist unser Wunsch, mehr über die Lehren dessen zu erfahren, den man Buddha nennt. Wir möchten ihm einen Schrein errichten und seine Lehren mit den Bürgern Chinas teilen. Deshalb hatten wir vor, einige der buddhistischen Missionare, die du vor einem Jahr mit nach Luoyang gebracht hast, zurück nach Indien zu schicken, damit sie dort Bücher und Statuen des Erleuchteten
Weitere Kostenlose Bücher