Die Schicksalsgabe
unvorstellbar reich werden.«
Sebastianus entledigte sich seiner Tunika und ließ sie zu Boden fallen. »Auf das Schmuggeln von Seidenraupen, alter Freund, steht der Tod. Das ist es nicht wert.«
»Immerhin«, meinte Timonides wehmütig, »wären wir die berühmtesten Männer Roms. Nestor und ich könnten uns eine Villa kaufen, einen sorglosen Ruhestand genießen …«
»Du wirst bei mir immer ein Zuhause haben. Leg dich jetzt schlafen, alter Freund. Uns bleibt nur noch ein Tag, um bei den Bewachern des Kaisers eine Schwachstelle zu finden, ehe wir zurück in der Stadt und erneut Gefangene sind.«
Er löschte das Licht, im Zelt wurde es dunkel. Bald schon hörte man ihn und den Astrologen schnarchen. Nestor dagegen starrte von seinem Lager aus zur oberen Begrenzung des Zelts hinauf.
Seit langem schon spürte er, dass sein Vater, den er abgöttisch liebte, unglücklich war. Er hatte sich bemüht, seinem Papa eine Freude zu bereiten, hatte sich auf dem Markt nach Geschenken für ihn umgeschaut, aber nichts Passendes gefunden. Ein Geschenk für seinen Papa musste etwas Besonderes sein.
Er dachte an die silbernen Fäden in diesem riesigen Zelt. Ja, darüber würde sich Papa freuen. Er könnte sich eine Villa kaufen. Papa würde glücklich sein.
Nestor kroch aus seinem Zelt und lief lautlos durch das schlafende Lager. Er wusste, wo das glänzende Haar aufbewahrt wurde – in dem größten der Zelte, dessen Umrisse sich zu den Sternen erhoben. Trotz der Wachen am Eingang hätte er es bedenkenlos betreten, aber angesichts ihrer Speere kam ihm dann doch der Gedanke, dass sie ihm möglicherweise wehtun könnten. Deshalb schlug er einen Bogen um die riesige Konstruktion aus Ziegenhaut und Filz, bis er auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite des Zelts anlangte, wo keine Männer mit Speeren oder Stöcken waren.
Das Zelt war gut im harten Boden verankert, aber Nestor, groß und stark, wie er war, gelang es, die angepflockte Leinwand anzuheben und darunter durchzukriechen. Im Schein der wenigen Fackeln, die im Inneren für etwas Helligkeit sorgten, sah er die wie die Haare einer Frau zu Flechten gebündelten wunderschönen weißen Fäden von Dübeln hängen.
Beherzt griff er zu, umschloss mit seinen dicken Fingern den Klumpen seidener Strähnen, und dann schaute er kurz zu den auf den Tischen ausgebreiteten weißen Kokons. Einen solchen wollte er auch mitnehmen. Als weiteres Geschenk für Papa.
So bedacht war er darauf, sich einen Kokon zu angeln, ohne ihn zu zerbrechen und ohne die winzige Raupe, die darin schlief, zu stören, dass er nicht hörte, wie die Wachen das Zelt betraten. Erst als er sich umdrehte, wurde er sich ihrer Anwesenheit bewusst.
Er überlegte. Wenn er die Männer mit den Prügeln anlächelte, würden sie ihm bestimmt nichts tun.
Das Endspiel des einwöchigen Polo-Turniers stand bevor. Erwartungsvolle Spannung lag in der Luft.
Timonides hielt in der Menge Ausschau nach seinem Sohn. Wo steckte Nestor nur? Er würde sich dieses Spiel doch nicht entgehen lassen wollen.
»Was ist denn das da?« Sebastianus deutete auf das Spielfeld, auf dem die mit Prügeln ausgestatteten beiden Mannschaften Aufstellung nahmen.
Timonides spähte hinüber zu der inzwischen reichlich ramponierten Grasfläche. »Das ist der Ball …« Dann keuchte er: »Großer Zeus!«
Sebastianus und der Astrologe hetzten auf das Spielfeld zu, auf dem Nestors Kopf aus dem Boden ragte. Die aufgeworfene Erde um ihn herum zeigte an, dass Timonides’ Sohn bis zum Hals eingegraben worden war.
Noch ehe Sebastianus und Timonides bei ihm waren, stellten sich ihnen Berittene in den Weg. »Lasst augenblicklich von ihm ab!«, schrie Timonides. »Mein Sohn hat nichts Unrechtes getan!«
Sebastianus spurtete bereits hinüber zu dem Baldachin, unter dem Stammesführer Jammu und seine Militärberater auf Holzstühlen Platz genommen hatten. Als er atemlos fragte, was das, was auf dem Spielfeld vor sich gehe, zu bedeuten habe, sagte Jammu: »Der Mann wurde beim Diebstahl im Seidenhaus gefasst. Er hatte Seide und einen Kokon in der Hand. Darauf steht die Todesstrafe.«
»Aber das wusste er nicht!«, protestierte Sebastianus entsetzt. »Nestor hat den Verstand eines Kindes!«
Auf einen Ruf hin hob der Lärm donnernder Hufe an. Sebastianus und Timonides wandten sich gerade noch rechtzeitig dem Spielfeld zu, um mit anzusehen, wie die Pferde auf Nestor zustürmten. Selbst als ihre Hufe ihn trafen und gleich darauf der erste dicke Prügel,
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