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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Wo würde man sie hinführen?
    Vor dem Zelt hatte sich die chinesische Wachmannschaft aufgebaut, seit Beginn ihrer Rundreise ihre ständige Begleitung und eine Erinnerung daran, dass sie Gefangene waren. Sebastianus und seine Gefährten folgten dem Stammesführer und seiner kleinen Gruppe durch die kühle Frühlingsnacht.
    Sie gelangten zu einem Zelt, das noch ausladender war als das, in dem sie gespeist hatten und unterhalten worden waren. Aus dem Inneren drang schwaches Licht, und bewacht wurde es von Tadschiken-Soldaten, die beim Auftauchen ihres Anführers Habtachtstellung einnahmen. Wozu ein derart großes Zelt?, sinnierte Sebastianus, und warum wurde es bewacht? Vielleicht, so seine Vermutung, wollte man den »Gästen« den Stammesschatz präsentieren, wahrscheinlich Gold und Edelsteine.
    Der Stammesführer duckte sich und trat durch die Zeltöffnung, die Männer aus Rom taten es ihm gleich, wobei Timonides zusätzlich darauf achtete, dass sich sein Sohn Nestor, der sogar den Stammesführer der Tadschiken überragte, nicht den Kopf am hölzernen Türrahmen anstieß. Kaum hatten sich ihre Augen an das schummrige Licht im Inneren des Zelts gewöhnt, runzelten sie verständnislos die Stirn. »Was ist denn das?«, fragte Timonides mit Blick auf die unzähligen Tische, die, wie es aussah, mit weißen Wattebällchen bedeckt waren.
    Als sie näher an die Tische herangeführt wurden, sahen sie, dass die »Wattebällchen« – Tausende – zu Reihen angeordnet und zwischen lange hölzerne Haltestifte geklemmt waren. Wie eine Schneeschicht bedeckten sie die Ablagefläche. Durch die Dolmetscher erfuhren die Besucher von Stammesführer Jammu, dass es sich hierbei um die Kokons des Seidenspinners handelte. Der Mann aus Pisa, der für Persisch und Lateinisch zuständig war, erklärte, dass diese besonderen Falter wie Vieh oder Schafe gehütet und ernährt würden, bis sie ihre Eier auf besonders präpariertem Papier ablegten. Wenn dann die Raupen aus den Eiern schlüpften, füttere man sie mit frischen Blättern des Maulbeerbaums; nach einem Monat sei ihre Entwicklung abgeschlossen. Dann ordne man die Raupen auf einem Tablett an und lege einen Holzrahmen darüber, worauf jede Raupe mit dem Spinnen eines Kokons beginne, den sie an einem der langen Dübel im Rahmen befestige. Innerhalb von drei Tagen seien die Raupen vollständig in ihrem Kokon eingeschlossen. Getötet würden sie durch das kochende Wasser, in das man die Kokons werfe, um das Geflecht erst aufzuweichen und anschließend die endlosen Fäden zu entwirren.
    Stolzgeschwellt und einigermaßen ausführlich beschrieb Jammu diesen Vorgang. Verschiedene Schritte überging er, weil es, wie Sebastianus gehört hatte, mit Ausnahme der Züchter von Seidenraupen jedem anderen untersagt war, sich Kenntnisse über die Herstellung von Seide anzueignen. Dieses Geheimnis wurde so streng gehütet, dass schon der Versuch, eine einzige Seidenraupe aus China zu schmuggeln, mit dem Tod geahndet wurde.
    Fünftausend Seidenraupen seien für ein einziges Gewand nötig, prahlte Jammu durch seine fehlenden Schneidezähne. Kein Wunder, folgerte Sebastianus, dass Seide in Rom schier unerschwinglich war, schon allein weil sie, kaum dass sie China verließ, über viele Mittelsmänner lief, die sich jeweils durch einen Aufschlag auf den Warenpreis ihren Profit sicherten. Sollte dieses Geheimnis jemals nach Rom gelangen und man dort mit ein paar Faltern eine kleine Seidenraupenfarm aufziehen können, würde das lukrative Geschäft hier in China zum Erliegen kommen.
    Am Ende der Führung bekamen die Besucher noch etwas Beeindruckendes zu sehen: Regalreihen voller Seide, die nur darauf wartete, gewebt und gefärbt und zu Ballen zusammengerollt zu werden, ehe man sie zu Wandbehängen, Drachen und Kleidung verarbeitete. Die gleichsam wie Zöpfe ineinander verschlungenen seidigen Fasern leuchteten im flackernden Licht der Fackeln wie weißes Gold. Sebastianus und seinen Freunden verschlug es die Sprache beim Anblick der Unmenge hauchdünner Stränge, die wertvoller waren als Gold oder seltene Edelsteine.
    Sie dankten dem infolge des im Übermaß genossenen Weins mittlerweile schwankenden Stammesführer und suchten ihr Zelt auf, um sich vor der Rückreise nach Luoyang auszuruhen. Noch tief beeindruckt vom Anblick dieser herrlichen Seide meinte Timonides leise: »Meister, wenn es uns gelänge, ein paar dieser Raupen und dieser Kokons zu beschaffen und mit nach Rom zu nehmen, könnten wir

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