Die Schicksalsgabe
vielen Menschen, die um sie herumfluteten, ungeachtet der Karren, die an ihnen vorbeiratterten, der Pferde, die ihren Weg über das Straßenpflaster suchten, hatte sie nur Augen für diesen Mann. Nach all den Sonnenauf- und Sonnenuntergängen, nach den vielen Nächten und Tagen, in denen sie an Sebastianus gedacht, von ihm geträumt, mit ihm gesprochen und gespürt hatte, dass ihre Liebe zu ihm ständig größer wurde, stand er jetzt vor ihr. Hochgewachsen und von kräftiger Statur, das bronzefarbene Haar in der Sonne leuchtend. Grüne galicische Augen sahen sie durchdringend an.
»Komm«, sagte er und lud sich ihre Reisebündel und den Arzneikasten auf die Schultern.
Sie ließen das Tor, die Stadt und die Menschenmenge hinter sich. Ulrika, die die Hand von Sebastianus auf ihrem Arm spürte und sich von ihm geleitet und beschützt fühlte, kam es vor, als hätte die Sonne noch nie so hell geschienen, als sei die Luft, die vom Fluss her wehte, noch nie so erfrischend, die Saat auf den Feldern noch nie so grün gewesen.
Sie meinte, ihr Herz müsste vor Freude und Liebe zerspringen.
Sie erreichten den weitläufigen Sammelplatz, von dem aus die Karawanen aufbrachen. Sebastianus führte Ulrika an Reihen kniender Kamele vorbei; überall roch es nach Dung, auf dem sich Fliegenschwärme niedergelassen hatten; zwischen den schätzungsweise hundert Zelten sah man Männer geschäftig hin und her eilen.
Aus einem Verpflegungszelt tauchte ein Mann auf. In Gedanken versunken, wischte er sich die Hände an einem Tuch ab. Ulrika erkannte in ihm Primo, den militärischen Veteranen und Sebastianus’ ehemaligen Hauptverwalter. Auch wenn er älter und verwitterter wirkte, freute sie sich, dass auch er als Verantwortlicher für die Sicherheit der Karawane das China-Abenteuer heil überstanden hatte.
Er grinste, als er seines Meisters ansichtig wurde. Als er dann aber Ulrika bemerkte, verzerrte sich sein Grinsen zu einer finsteren Grimasse.
»Irgendetwas scheint ihn nicht gerade fröhlich zu stimmen«, flüsterte Ulrika.
»Er möchte so schnell wie möglich nach Rom zurück. Ständig bedrängt er mich, Babylon zu verlassen.« Sebastianus lächelte. »Ich wäre ja damit einverstanden gewesen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass du hier bist und ich dich finden musste.«
Ulrika ahnte, dass es für Primos missmutigen Blick noch einen tieferen Grund gab. War etwa sie der Anlass für seinen Unmut? Seinerzeit in Antiochia hatte sie das unbestimmte Gefühl gehabt, dass sich unter Sebastianus’ Männern ein Verräter befand, und jetzt überlegte sie, ob Primos finstere Miene nicht vielleicht mehr ausdrückte als seine Ungeduld, Rom zu erreichen.
Jählings wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als ein hagerer weißhaariger Mann in schlotternder Kleidung und mit eingefallenen Wangen und dürren Armen mit dem Ausruf »Wie schön, dich wiederzusehen, liebes Kind!« auf sie zukam.
Es dauerte eine Weile, bis Ulrika in dem Alten den Astrologen Timonides erkannte. Was war ihm zugestoßen? Sie bemühte sich, ihre Betroffenheit zu verbergen, zwang sich zu einem Lächeln. »Auch ich freue mich, dich wiederzusehen, Timonides.«
»Wir sind da«, sagte Sebastianus, als sie ein ausladendes Zelt aus fester roter Leinwand erreichten, auf dessen Spitze goldene Banner knatterten. Er fasste Ulrika bei der Hand und führte sie ins Innere.
Eine völlig fremde Welt tat sich vor ihr auf.
Das schwere Tuch der Wände dämpfte den Lärm, der draußen herrschte, sorgte für eine wohltuende Atmosphäre der Ruhe. Lampen aus glänzendem Kupfer, die von den Zeltstützen herabhingen, verbreiteten sanftes Licht. Auf dem mit dicken Teppichen ausgelegten Boden waren bunte Kissen verteilt. Überall, in jeder Ecke, entdeckte man herrliche Kostbarkeiten: Statuen aus durchsichtiger Jade, mit blitzenden Goldmünzen gefüllte Truhen, Fächer aus Pfauenfedern in allen Farben des Regenbogens.
Noch ehe Ulrika etwas sagen konnte, zog Sebastianus sie in die Arme und drückte seine Lippen auf die ihren. Impulsiv umschlang sie seinen Nacken, zog ihn an sich, erwiderte voller Leidenschaft seinen Kuss.
Mit beiden Händen umfasste er ihr Gesicht. »Ich habe dir so vieles zu erzählen und möchte dich so vieles fragen. Aber im Augenblick begehre ich dich so sehr, dass nichts wichtiger ist, als mit dir zusammen zu sein. Ich habe von dir geträumt …« Er küsste sie wieder, diesmal ungemein zärtlich und innig. Atemlos gab sich Ulrika seinen Liebkosungen und der Intensität
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