Die Schicksalsgabe
Frieden und Glauben und seiner Befähigung, lediglich durch Handauflegen Krankheiten zu heilen, viele Menschen erreicht. »Ich bin gekommen, ehrwürdige Mutter«, sagte Ulrika so leise, dass kein Dritter mithören könnte, »um dir zu sagen, dass der Leichnam deines Ehemannes nicht zusammen mit den anderen Hingerichteten verbrannt werden wird.«
Erstaunt lauschte Miriam Ulrikas Bericht über einen Spanier namens Gallus, der über Freunde und gute Beziehungen verfügte und sich dafür einsetzen wollte, Judahs sterbliche Reste in Sicherheit zu bringen. Tränen stiegen ihr in die Augen, und als Ulrika geendet hatte, sackte sie aufschluchzend zusammen. Sofort umringten sie ihre Söhne. Ulrika erkannte den Ältesten, Samuel, wieder, einen großen schlanken jungen Mann mit olivfarbener Haut und pechschwarzem Haar, dessen Ringellocken sein Gesicht einrahmten. Er trug einen fransenbesetzten Gebetsschal und die gleichen ledernen Phylakterien wie sein Vater. Seine düstere Miene spiegelte Schmerz und Zorn wider. Ulrika empfand tiefstes Mitleid mit ihm.
»Schon gut«, sagte Miriam mit zittriger Stimme und legte beruhigend eine Hand auf Samuels Arm. »Diese liebe Tochter hat eine frohe Botschaft überbracht.« Und zu Ulrika gewandt: »Gott wird für dich und deinen Ehemann einen Platz im Himmel bereithalten. Das alles verschlingende Feuer hätte die Auferstehung meines Mannes zunichte gemacht.«
»Die Auferstehung?« Ulrika verstand nicht.
»Bei der Rückkehr des Herrn werden wir wiedergeboren werden, und der Leib der Gläubigen wird wie der Herr auferstehen.«
»Vergib mir mein Erstaunen, verehrte Mutter, aber dies ist jetzt das zweite Mal, dass ich unter Juden von dieser Wiedergeburt höre. Zum ersten Mal erfuhr ich davon in Judäa, als ich mich eine Zeitlang bei einer Frau namens Rachel aufhielt. Sie wachte über das Grab ihres Mannes Jakob, um es vor Schändung durch Feinde zu bewahren.«
Miriam schaute sie verblüfft an. »Rachel und Jakob aus Judäa! Ich kannte die beiden! Jakob wurde von Herodes Agrippa in Jerusalem hingerichtet. Was aus seiner Frau wurde, haben wir nie erfahren.«
Ulrika berichtete ihr von ihren Erlebnissen am Salzmeer und wie Rachel und Almah sie gefunden und in ihr Lager gebracht hatten.
»Wunder über Wunder!«, rief Miriam aus. »Jakob und sein Bruder Johannes waren die Söhne von Zebedäus. Sie gehörten zu den Zwölf, und wir Frauen folgten ihnen auf ihrer Reise mit dem Meister, der damals unterwegs war, um die Frohe Botschaft zu verkünden. Jeshua vollbrachte Wunder, und nach seinem Tod vor einunddreißig Jahren übertrug er diese Gabe seinen Jüngern. Deshalb konnte auch mein Judah den Menschen helfen. Und er wird erneut Wunder vollbringen, sobald Jeshua, wie er es versprochen hat, auf die Erde zurückkehrt, und ich werde am Tage der Auferstehung wieder mit meinem geliebten Ehemann vereint sein.« Ihre Stirn kräuselte sich. »Wie Rachel gilt es jetzt für meine Söhne und mich, den Leichnam meines Ehemannes zu beschützen.«
»Ehrwürdige Mutter«, beeilte sich Ulrika zu sagen, während sie inständig hoffte, Sebastianus würde im Haus des Gouverneurs Erfolg haben, »wie ich dir bereits sagte, verfüge ich wie du über die Gabe, Visionen zu empfangen. Ich hatte einen Traum. Judah sprach zu mir. Er äußerte den Wunsch, bei Daniels Burg begraben zu werden, auf heiligem Boden. Sebastianus wird seine sterblichen Überreste dorthin überführen. Du solltest jemanden hinschicken. Aber sei vorsichtig. Es ist sehr gefährlich.«
Und als Miriam sich erhob, fügte Ulrika hinzu: »Da ist noch etwas. In meinem Traum sagte Rabbi Judah: ›Sag ihnen, sie sollen die Erinnerung an mich bewahren.‹«
36
Ulrika setzte ihre Reisebündel vor dem Zelt ab und blickte hinüber zur östlichen Stadtmauer mit dem Enlil-Tor, durch das reger Verkehr hin und her wogte. Sebastianus hatte sich bereits frühmorgens auf den Weg gemacht, um die Zollbeamten über den Aufbruch der Karawane zu informieren und die anfallende Steuer zu entrichten. Inzwischen war es Spätnachmittag geworden, er sollte also jeden Moment zurück sein. Und morgen würde es nach Rom gehen!
Im Lager der Karawane herrschte reges Treiben, Sklaven machten die vielen Tiere reisefertig, Zelte wurden abgebaut, zusammengefaltet, die kostbaren Schätze, die sie beherbergt hatten, in Kisten verstaut und versiegelt. Für die Mittagsmahlzeit – warmes weiches Brot, würzigen Ziegenkäse und in Essig und Öl eingelegte Oliven – war Ulrika viel zu
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