Die Schicksalsgabe
schreien und um Gnade zu winseln und versprachen, für den Rest ihres Lebens Marduk zu verehren.
Sebastianus legte den Arm um Ulrika und versuchte, sie vor dem grässlichen Spektakel abzuschirmen. Sie aber wehrte ab, wollte vor dem, was sich abspielte, nicht die Augen verschließen.
Kein Laut war von Judah zu vernehmen, als er zu Boden stürzte und dann wie eine Puppe an die Mauer geschleift wurde, als er an den Füßen langsam hochgezogen wurde, als er kopfüber und mit pendelnden Armen dort hing. Nur seine Lippen bewegten sich. Ulrika ahnte, dass er betete.
Seine Angehörigen drängten sich vor, laut weinend und um Erbarmen flehend. Sie wurden von den Wachen zurückgewiesen. Der Hohepriester warnte nach einem weiteren Schlag mit seinem Stab aufs Pflaster die Zuschauer, dass ein solches Schicksal jedem drohe, der die Gesetze Marduks und Babylons nicht befolge.
Ohne die inständigen Bitten der Angehörigen und Freunde zur Kenntnis zu nehmen, wandte er dann den fünf röchelnden Männern an der Mauer den Rücken zu und ging weiter. Ein paar Wachen blieben, um aufzupassen, dass niemand versuchte, die Erhängten abzuschneiden. Sie würden so lange auf ihrem Posten verharren, bis alle fünf tot waren, um dann die Toten aus der Stadt zu schleifen und sie zusammen mit Hunde- und Katzenkadavern und dem Unrat und Abfall einer ganzen Stadt zu verbrennen.
Ulrika ging auf die Angehörigen von Rabbi Judah zu. Miriam sagte zu ihr: »Ulrika, bitte richte deinen Blick nicht auf meinen nackten Mann. Verletze nicht sein Schamgefühl. Geh nach Hause, Ulrika, und bete für ihn.«
»Aber irgendetwas müssen wir unternehmen! Wir können ihn doch nicht dort hängen lassen!« Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Speiübel war ihr.
Und dann spürte sie eine Hand auf ihrem Arm, und eine tiefe Stimme sagte: »Komm weg von hier. Du solltest dir so etwas nicht ansehen.«
»Sebastianus, wir müssen etwas unternehmen!«
Es war Miriam, der es schließlich gelang, Ulrika zum Verlassen des Platzes zu bewegen. Sebastianus brachte sie zurück zu seinem Zelt, schloss sie in die Arme, küsste sie zärtlich, streichelte sie, wischte ihr die Tränen weg, hielt sie umschlungen und ließ sie sich ausweinen, bis sie einschlief.
Erst am späten Nachmittag wachte sie auf. Sie war allein, ihr Kopf schmerzte, die Kehle war wie ausgetrocknet. Sie trank Wasser, wusch sich die Hände und hockte sich dann inmitten der seidenen Kissen und der Statuen von chinesischen Göttern nieder, überkreuzte die Beine, umfasste die Kammmuschel und hob voller Inbrunst an, die Göttin zu bitten, sich der hingerichteten Männer anzunehmen.
Als Sebastianus zurückkam, war es bereits dunkel. »Ich habe versucht, mich für deinen Freund zu verwenden«, sagte er resigniert. »Ich habe meine einflussreichen Freunde in der Stadt aufgesucht und sogar den Gouverneur, aber alle erklärten, sie kämen gegen die mächtigen Priester Marduks nicht an. Also ging ich in den Tempel und bot ihnen an, ihre Truhen zu füllen, wenn sie die hingerichteten Männer freigäben. Aber keine noch so hohe Summe Geldes vermochte den Hohepriester umzustimmen. Es tut mir leid, Ulrika.«
Sie schmiegte sich in seine Arme, schloss die Augen und klammerte sich so fest an Sebastianus, als wäre er eine Insel in einem stürmischen Meer.
Ulrika befand sich in einer seltsam anmutenden Umgebung.
Sie war nicht länger in Sebastianus’ Zelt, sondern in einer Wüste; es war Nacht, der fast volle Mond überzog die Landschaft mit einem silbernen Schein. »Sebastianus?«, rief sie und wandte sich nach allen Seiten um. Inmitten der Dünen erhoben sich geisterhaft erhellte Ruinen; in der Ferne sah man die Lichter Babylons. Nach einer Weile erkannte Ulrika den Ort als den, den man Daniels Burg nannte und der etwa zehn Meilen von Babylon entfernt war. Der Legende nach war hier der Prophet Daniel begraben, der vor langer Zeit in Babylon gelebt hatte. Einsam und verlassen ragte die »Burg« zu den kalten Sternen empor. Alles schien unwirklich zu sein, so als wäre Ulrika durch ein unsichtbares Portal ins Reich des Übernatürlichen getreten. Sie hielt ihr Gesicht dem Wind entgegen. Dieser Ort muss bereits in uralter Zeit existiert haben, ging es ihr durch den Kopf; schon lange vor der Zeit, da der Prophet Daniel die geheimnisvollen Worte an der Wand gelesen hatte, war dies geheiligter Boden.
Geister wohnten hier.
Die Burg war ein wunderliches Bauwerk. Obwohl es an allen Ecken bröckelte und dem Verfall
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