Die Schicksalsgabe
preisgegeben war, konnte man seine ursprünglichen Umrisse noch ausmachen: ein massiver quadratischer Block und darauf ein kleinerer, ebenfalls quadratischer Block, das Ganze scheinbar ohne Eingang oder irgendwelche Öffnungen. Obwohl im Gegensatz zu Persepolis keinerlei Hinweise auf seine Entstehung hinwiesen, musste es sehr viel älter sein als nur ein paar hundert Jahre. Die Sandsteinmauern schienen mehr als tausend Jahre lang vom Wind abgeschmirgelt worden zu sein. War der Prophet Daniel wirklich hier begraben? Waren im Laufe der Zeit vielleicht sogar andere Menschen von ihren Angehörigen hier zur letzten Ruhe gebettet worden, in der Hoffnung, dass die Nähe zu einer geheiligten Stätte dem Verstorbenen den Eintritt ins Paradies gewährte?
Als ein Mann zu ihr trat, sprang Ulrika auf. »Du hast mich erschreckt«, sagte sie und erkannte in ihm gleich darauf Rabbi Judah. Er war wie immer gekleidet, auch der fransenbesetzte Schal als Zeichen seiner religiösen Berufung, fehlte nicht. »Du lebst!«, rief sie aus und wollte auf ihn zugehen.
»Komm nicht näher, Ulrika«, sagte er. »Du darfst nicht näher kommen. Ich habe eine Bitte. Lass nicht zu, dass sie mich verbrennen. Mein Körper soll erhalten bleiben. Bewahre mich vor dem Feuer. Sag meiner Familie, sie soll mich hier begraben. Sag ihnen, sie sollen die Erinnerung an mich bewahren.«
Die Vision verflüchtigte sich. Mit tränenfeuchtem Gesicht wachte Ulrika auf. Sebastianus schlief noch. Erst als sie bitterlich zu weinen begann, öffnete er die Augen. »Was ist denn, Liebste?«
»Rabbi Judah ist tot.«
Sebastianus fragte nicht, wieso sie das wusste. Im Dunkel der Nacht sah er sie lange an, richtete sich dann auf. »Das ist eine Erlösung für ihn«, sagte er.
Ungern, aber dennoch rückte Ulrika von ihm ab und stand auf. »Ich muss los«, sagte sie und griff nach ihren Kleidern. »Wir dürfen nicht zulassen, dass die Priester seinen Leichnam verbrennen.«
»Ulrika, sich mit ihnen einzulassen ist viel zu gefährlich.«
»Ich muss es tun.« Sie schlüpfte in ihr Kleid.
»Also gut, aber du bleibst hier.« Damit griff sich Sebastianus seine Tunika. »Ein riskantes Unternehmen, keine Frage. Aber im Büro des Gouverneurs sitzt ein Mann, der mir eine Gefälligkeit schuldet. Sollte er das vergessen haben, hat er bestimmt nicht vergessen, was Goldmünzen sind.«
»Du hast doch gesagt, dass selbst deine guten Beziehungen nichts genützt haben. Vielleicht kann ich ja …«
»Einen Verurteilten zu retten, ist eine Sache, seinen Leichnam zu bergen eine andere. Durchaus möglich, dass mir das gelingt.«
»Ich kann nicht von dir verlangen, für einen Mann, den du gar nicht kennst, dein Leben zu riskieren …«
»Ich tue das nicht für den Rabbi, Liebes, sondern für dich.« Er küsste sie voller Hingabe, während Ulrika die Arme um seinen Hals schlang und sich an ihn drückte.
»Sebastianus«, sagte sie dann, »könntest du, wenn du Erfolg hast, Rabbi Judah zu Daniels Burg bringen? Sie liegt südlich von hier.«
Er runzelte die Stirn. »Die Ruinen sind mir bekannt.«
»Dann werde ich die Angehörigen benachrichtigen. Damit sie dich dort treffen. Sei vorsichtig, Liebster.«
Vom Vorplatz des Zelts aus verfolgte sie, wie er sich lautlos durch das schlafende Lager schlich und in die Nacht entschwand. Als sie nach Osten schaute und sah, dass die Morgendämmerung nicht mehr lange auf sich warten ließ, holte auch sie sich ihren Umhang und verließ ebenfalls das Lager.
Das einstöckige Haus im Jüdischen Viertel lehnte sich an die westliche Stadtmauer und war auf beiden Seiten von anderen Häusern eingerahmt. Eine äußere Treppe führte zu den oben gelegenen Schlafräumen. Tagsüber fand das Leben unten statt, in dem zentralen großen Raum, der mit Stühlen und einem Tisch ausgestattet war, mit Sockeln für Lampen und an den fensterlosen Seiten mit Wandteppichen. Hier saß die Witwe des Rabbis in einem Stuhl mit hoher Lehne und empfing Besucher, die ihr ihre Anteilnahme zum Ausdruck brachten.
»Lieb von dir, dass du kommst«, sagte Miriam, als Ulrika vor sie hintrat. Die Witwe des Rabbis war ganz in Schwarz gekleidet und hatte dunkle Schatten unter den Augen. Neben ihr standen ihre Söhne.
Die, die sich sonst noch im Raum und im Garten aufhielten, gehörten allen möglichen Schichten an, waren keineswegs ausschließlich Anhänger des jüdischen Glaubens, noch stammten sie samt und sonders aus Babylon. Offenbar hatte Rabbi Judah mit seinen Predigten über
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