Die Schicksalsgabe
nehmen und festhalten, gewissermaßen wie einen Anker umklammern kannst?«
Timonides brauchte gar nicht erst nachzudenken. Er verschwand in sein Zelt und tauchte gleich wieder mit einem langen Holzlöffel auf, den Ulrika als Nestors bevorzugten Kochlöffel erkannte.
Als er sich wieder auf seinen Hocker setzte, schien zum ersten Mal ein Fünkchen Hoffnung in seinen Augen aufzublitzen, so als wäre es bereits ein Trost, einfach nur diesen Löffel in der Hand zu halten. »Jetzt denk ganz fest an etwas«, forderte Ulrika ihn auf, »an etwas Vertrautes und Angenehmes.«
Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. »An einen vor sich hin köchelnden Schmortopf. Das ist die schönste Erinnerung an meinen Sohn.«
»Verinnerliche dieses Bild, während du diesen Löffel festhältst. Konzentriere dich darauf. Stell es dir ganz plastisch vor. Und jetzt sprich leise ein paar Worte, die dir wichtig sind. Wiederhole sie immer wieder.«
Vorgebeugt und mit eingefallenen Schultern besah sich Timonides den Löffel in seiner Hand, nickte dann, als wäre er mit sich einig geworden. »Sterne sind Bestimmung«, murmelte er.
Behutsam wies Ulrika ihn an, wie er atmen, sich hin und her wiegen, sich konzentrieren sollte. Mit sanfter Stimme und einfachen Worten geleitete sie ihn hinüber in einen Bereich intensiver Empfindungen. »Halte dich fest an dem Anker, sende deinen Geist hinaus …« Aber selbst während sie sprach, sah sie, wie sich seine Augen hinter den Lidern bewegten und sich die Furchen in seiner Stirn vertieften. Ein Zeichen, dass er mit sich kämpfte.
»Ich kann es nicht!«, rief er schließlich verbittert. »Liebes Kind, das wird nichts!«
Umso zärtlicher strich er über den Löffel, was Ulrika verriet, dass er dennoch Hoffnung hegte. Timonides wollte sich nicht umbringen, wollte seinem Sohn nicht in ein Totenreich folgen, wie er es sich vorstellte. Aber wie ihn retten?
Obwohl Ulrika angestrengt nachdachte, entging ihr nicht, dass sich vom Westen her eine weitere Karawane näherte, erschöpfte Tiere und Männer den Sammelplatz betraten. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass sich die ihr eigene Art der Meditation auf Äußerlichkeiten richtete, während das, was Timonides zu schaffen machte, geistiger Natur,
innerlich
war. Von neuer Hoffnung erfüllt, sagte sie: »Versuche nicht, deinen Geist hinauszuschicken, Timonides. Geh stattdessen tief in dich. Suche die Landschaft deiner Seele. Erforsche sie. Hab keine Angst. Sag mir, was du siehst.«
Er schloss wieder die Augen, umspannte den Löffel, drückte ihn an sich. Atmete langsam. Schwankte hin und her. Murmelte: »Sterne sind Bestimmung … Sterne sind Bestimmung …« Bis er zu zittern anfing, das Murmeln verstummte und sein Atem stockte.
»Schwärze«, stammelte er gepresst. »Ich sehe ein großes gähnendes Loch. Kalter Wind. Leere. Meine Seele ist einsam und verlassen!«
»Timonides«, sagte Ulrika leise, »halte im Stillen Zwiegespräch mit deiner Seele. Verrate mir nichts davon. Sprich mit deinem geistigen Ich. Stell ihm Fragen. Frage es, was es will, wie es gerettet werden kann.«
Während sie beobachtete, wie sich der alte Astrologe immer tiefer versenkte, sich entspannte, die Falten auf seinem Gesicht weicher wurden, sah sie Sebastianus zurück ins Lager kommen. Er war allein und schien verärgert zu sein. Offenbar hatte er keinen Astrologen aufgetrieben, der bereit war, ihn zu begleiten.
Sie legte eine Fingerspitze an die Lippen, worauf sich Sebastianus schweigend zu ihr und Timonides setzte.
Nach einer längeren Stille öffnete Timonides schließlich die Augen. »Ich schaffe es nicht. Für dich, Ulrika, mag das einfach sein. Du bist jung und agil. Meine Seele dagegen ist alt und knirscht wie meine Gelenke.«
Sie neigte sich zu ihm. »Wie oft habe ich dich beobachtet, wenn du dich auf eine Deutung der Sterne vorbereitet hast. Du hast die Augen geschlossen und ein Gebet geflüstert. Warum hast du das gemacht?«
»Um meine Seele den Sternen zu öffnen, ihre Weisheit in mich eindringen zu lassen.«
»Dann verfahre jetzt ebenso.«
Mit einem skeptischen Blick setzte er sich wieder zurecht, umfasste den Löffel, schloss die Augen und atmete gleichmäßig und tief. »Sterne sind Bestimmung«, flüsterte er und redete sich ein, er bereite sich auf eine Deutung der Gestirne vor. Statt sich jedoch, wie von Ulrika empfohlen, in seine Seele zu versenken, wusste Timonides, dass er seine Gedanken zum Himmel emporzuschicken hatte, denn dort gehörte er hin.
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