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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Türen oder Öffnungen gab.
    Er vernahm einen Seufzer. Da saß doch tatsächlich jemand an dem Tisch! Sebastianus verengte die Augen. Diese Person war eben noch nicht da gewesen! Das musste der Weihrauch bewirken, der jetzt intensiver war und ihm zu Kopfe stieg. Enthielt er etwa eine Substanz, die Visionen hervorrief?
    Er trat einen Schritt näher. Nein, das war keine Vision. An dem Tisch saß wirklich jemand. Sebastianus blinzelte, runzelte die Stirn. Das musste der Chaldäer sein, folgerte er. Aber was für eine merkwürdige Erscheinung!
    In Anbetracht seiner Berühmtheit von überraschend bescheidenem Äußeren, trug der Chaldäer lediglich ein langes weißes Gewand, das schon bessere Tage gesehen hatte. Seine langen knochigen Hände ruhten auf dem Tisch. Den Kopf hatte er geneigt, sein pechschwarzes, in der Mitte gescheiteltes Haar floss ihm über Schultern und Rücken. Jetzt hob er den Kopf – und Sebastianus erschrak.
    Der Chaldäer war eine Frau. Noch dazu eine Frau mit einem ungemein markanten Gesicht: Es war lang und schmal, knochig und von gelblicher Hautfarbe. Traurige schwarze Augen unter hoch angesetzten geschwungenen Brauen waren auf Sebastianus gerichtet. Fast wie ein Wesen aus einer anderen Welt kam ihm die Chaldäerin vor, ihr Alter war nicht auszumachen. Sie konnte zwanzig, aber auch achtzig sein.
    »Du hast eine Frage«, sagte sie in perfektem Lateinisch, die tief eingesunkenen Augen auf den Besucher geheftet.
    Sebastianus nahm ihr gegenüber Platz. Je näher er der Astrologin kam, desto mehr schien der Weihrauch seinen Kopf zu vernebeln, war jetzt eher abstoßend und roch irgendwie ekelhaft. Der Raum schien sich zu verdunkeln, die Wände näher heranzurücken.
    »Du hast eine Frage bezüglich der Gestirne«, sagte die wunderliche Frau mit einer Stimme, die älter anmutete als die Zikkurate von Babylon.
    »Enthalten sie Botschaften?«
    »In allem sind Botschaften enthalten. Wir sind von ihnen umgeben. Du musst nur hinsehen.«
    »Kann man den Sternen vertrauen, dass sie Botschaften von den Göttern übermitteln?«
    »Warum zerbrichst du dir über so etwas den Kopf?«, entgegnete die Seherin mit kummervoller Miene.
    Sebastianus wurde ungeduldig. Die Astrologin hatte ihn weder nach dem Tag und der Stunde seiner Geburt gefragt, noch nach seinen Sonnen- und Mondzeichen, noch nach den Konstellationen am nächtlichen Himmel, als er zum ersten Mal Atem geholt hatte.
    Er musterte die Tischplatte. Keine Tabellen, keine Diagramme, weder Gleichungen noch Astrolabia. »So hört mir doch zu …«, hob er an, brach aber gleich darauf ab. Die Chaldäerin starrte unverwandt geradeaus, mit wässrigen schwarzen Augen. Irgendetwas Befremdliches lag in ihrem Blick …
    Er hob die Hand und wedelte ihr damit vor dem Gesicht herum. Sie zwinkerte nicht.
    Die Chaldäerin war blind.
     
    Mit ihrer gelähmten Tochter in den Armen betete die junge Mutter mit leisem Singsang. »Rabbi Judah, ich flehe dich an, hilf uns«, murmelte sie mit geschlossenen Augen. Ulrika und Miriam, Primo und seine Männer schauten ihr schweigend zu. Ihr Gebet drückte tiefe Verzweiflung aus, ihre Stimme griff allen ans Herz, rührte manche zu Tränen. »Lieber Judah, ich habe sonst niemanden, an den ich mich wenden kann. Wir haben seit Tagen nichts gegessen. Wir haben kein Zuhause, keine Familie. Ab morgen muss ich mich als Prostituierte verkaufen, damit meine Tochter und ich leben können. Vielleicht sollte ich den Tod vorziehen. Für mich wäre das ein Ausweg, aber meine Tochter ist erst vier Jahre alt. Ich möchte, dass sie lebt. Geist dieses Ortes, wer immer du bist, wenn du Judah bist, nimm stattdessen
meine
Beine. Nimm alles Leben aus meinen Muskeln und Knochen und übertrage es in die leblosen Glieder meiner Tochter. Ich flehe dich an, wende diesen Fluch von meiner Kleinen ab und lege ihn mir auf, und ich werde dich verehren und deinen Namen preisen, solange ich lebe.«
    Sie hob den Kopf und flehte zum Himmel. »Wir sind ohne jede Hoffnung«, sagte sie. »Vielleicht sind wir der göttlichen Beachtung nicht würdig. Dabei erbitte ich für mich selbst nichts! Nur für meine Tochter.
Bitte hilf ihr!
«
    »Mama?«, vernahm man ein dünnes Stimmchen. »Mama?«
    Die junge Mutter spürte, dass sich ihre Tochter bewegte, und öffnete die Augen. »Was ist denn, Liebes?«
    »Wer ist dieser Mann?«
    »Welcher Mann?«
    Das Kind deutete auf einen Punkt, worauf sich alle Köpfe in die angegebene Richtung wandten. Aber niemand konnte zwischen den

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