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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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der Ausführung kam, dazu führte, dass der Turm nie vollendet wurde. Ein späterer König gestaltete den Schandfleck in einen Aussichtsturm um, der, geschützt vor den Elementen, einen Rundblick von Horizont zu Horizont und nächtens auf den Himmel mit seinen Tierkreiszeichen bot.
    Als Sebastianus die dreihundertdreiunddreißig steinernen Stufen hochstieg, die sich spiralförmig nach oben wanden, kämpfte er gegen seine Gefühle an. Noch keinem der Astrologen, die er aufgesucht hatte, war es gelungen, ihm wieder zu seinem Glauben zu verhelfen. Außerdem hatten sie ihm ganz unterschiedliche Horoskope gestellt, was für ihn unerträglich gewesen war. Weil er über Jahre hinweg Timonides blind vertraut hatte, war Sebastianus entgangen, wie sehr die Auslegung der Sterne von einem Astrologen zum anderen abweichen konnte. Obwohl sich alle auf dieselben Konstellationen und Zeichen stützten, die gleichen Zahlen und Gleichungen verwendeten, die gleichen Karten und Instrumente benutzten, fielen ihre Deutungen so aus, dass zum Beispiel einer Sebastianus sagte, all seine Kinder priesen seinen Namen und würden ihm viele Enkel schenken, während ein anderer ihm versicherte, dass seine jetzige Ehefrau länger leben würde als ihre beiden Vorgängerinnen. War die Wissenschaft der Astrologie ein einziger Schwindel?
    Als er wie Hunderte vor ihm eine ausgetretene Stufe um die andere erklomm, hoffte er noch immer, dass der berühmte Chaldäer in seinem Turm ihm seinen Glauben an die Sterne zurückgeben würde.
    Oben angekommen und nachdem er durch eine kleine Holztür getreten war, musste sich Sebastianus erst einmal fangen und an der Mauer festhalten. Was für eine Aussicht! Dieses Panorama! Wüste und Fluss und Hügel und vor allem die Metropole mit ihrem hektischen Treiben breiteten sich vor ihm aus.
    Er hatte das Ende des Treppenaufgangs erreicht, stand auf der Spitze des Turms. Weiter ging es nicht. Die steinerne Mauer endete in Brusthöhe, die geflieste Überdachung wurde von acht Säulen getragen. Mehr gab es nicht.
    Wo war der Chaldäer?
    Windböen umfauchten ihn, drohten seinen Umhang wegzuzerren und mit sich fortzutragen. In Sebastianus flammte Zorn auf. Zum Narren hatte man ihn gehalten! War es tatsächlich so weit gekommen? Dass leichtgläubige Männer wie er horrende Summen zahlten, nur um einem Betrug aufzusitzen? Wie viele mochten im Laufe der Jahrhunderte hier heraufgekommen sein und waren, nachdem sie festgestellt hatten, dass sie die Zielscheibe eines Spotts geworden waren, wieder hinuntergestiegen und hatten sich vor ihren Freunden damit gebrüstet, wie erfolgreich ihre Zusammenkunft mit dem Chaldäer gewesen war? Denn dass man geprellt worden war, würde man doch niemals zugeben.
    Ich werde berichten, wie es war!, schwor sich der erboste Sebastianus. Ich werde in den Straßen von Babylon hinausschreien, dass der Chaldäer gar nicht existiert! Dass es auf diesem Turm oben nichts gibt außer Wind und zerbrochene Träume!
    Er schreckte zusammen, als ein Vogel unter das von Säulen getragene Dach des Turms flog und mit erregten Flügelschlägen herumflatterte. Ein kleiner Rötelfalke, wie Sebastianus anhand der Färbung erkannte. Seine Augen waren mit einem eigenartigen Häutchen überzogen. Als der Falke an eine Säule prallte, merkte Sebastianus, dass der Vogel blind war. Er beobachte, wie er innerhalb des Turms Kreise beschrieb und dann plötzlich im Sturzflug abtauchte.
    Wohin war der Vogel entschwunden? Man konnte meinen, er wäre direkt in den Boden hineingeflogen.
    Sebastianus beugte sich hinunter zu den marmornen Bodenfliesen und entdeckte eine unscheinbare Öffnung, aus der es wie süßlich parfümierter Weihrauch duftete. Er hörte ein Summen, so als singe jemand leise vor sich hin. Der Chaldäer! Sebastianus ging um die Öffnung herum. Da! Eine hölzerne Stufe. Vorsichtig setzte er den Fuß darauf, und als sie dem Gewicht standhielt, stieg er weiter nach unten.
    Nach nochmals zwölf Stufen gelangte er zu einem Wandteppich. Er schob ihn beiseite und sah einen kleinen behaglichen Raum, der von Öllampen schwach erhellt wurde und mit einem Tisch und zwei Stühlen, Wandbehängen und Astrolabia, Diagrammen, Schalen und einer ausgestopften Eule ausgestattet war. Vorsichtig und darauf bedacht, mit dem Kopf nicht an der niedrigen Decke anzustoßen, betrat er den Raum, der hinter dem spiralförmigen Treppenaufgang liegen musste.
    »Hallo!«, rief er laut, weil niemand zu sehen war und es offenbar keine weiteren

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