Die Schicksalsgabe
gewesen. Und jetzt war alles ins Wanken geraten, all seine Gewissheiten lagen in Trümmern.
Die blauglasierten Kacheln an den hohen Mauern des Ishtar-Tors glänzten in der Mittagssonne, hundert goldene Drachen verharrten in erstarrter Pracht. Ulrika indes sah nur ein mit Kummer erfülltes grünes Augenpaar. »Sebastianus, mein Liebster«, sagte sie, »mein Aufenthalt in Persien hat mich gelehrt, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht. Genau wie du mir einmal gesagt hast, bin auch ich jetzt davon überzeugt, dass nichts zufällig passiert, dass im Universum tatsächlich Ordnung herrscht. Als ich mich damals entschloss, Rom zu verlassen und nach Norden zu ziehen, um das Volk meines Vaters vor einer militärischen Falle zu warnen, wurde mir von unsichtbaren Mächten ein Weg gewiesen, und alles, was ich seither erlebt habe, geschah aus einem bestimmten Grund, genauso wie alles, was
uns beiden
, liebster Sebastianus, aus einem bestimmten Grund beschieden war. Nicht anders verhält es sich mit Timonides’ Unwahrheiten. Frag den Chaldäer.«
»Ich liebe dich, Ulrika«, sagte er zärtlich und legte die Hand an ihre Wange. »Vor Sonnenuntergang sehen wir uns wieder.«
»Ich liebe dich auch.« Wieder küssten sie sich, und dann gab Sebastianus Ulrika frei und winkte den etwas abseits stehenden Primo zu sich. »Bleib immer in ihrer Nähe, Primo, und halte Ausschau nach Tempelwachen.«
Ulrika setzte sich ungern auf ein Pferd, höchstens zusammen mit Sebastianus. Da Daniels Burg nur zehn Meilen entfernt war und der Tag angenehm warm, brachen sie zu Fuß auf. Ulrika, Timonides, Primo und sechs seiner kampferprobten Männer schlugen von der Stadt aus die verkehrsreiche Landstraße ein, bis sie zu einer kleinen Abzweigung kamen, die weg von Dörfern und Bauernhöfen führte und der entlang sie schon bald in öde Wüstenlandschaft gelangten.
Neben Ulrika schritt ein schweigender Primo, dessen massiver Soldatenkörper wie auch sein narbiges Gesicht grimmige Entschlossenheit ausstrahlten.
Es war abzusehen, dass Quintus Publius, der Repräsentant Roms, in Kürze von seinem Besuch bei der Königin von Magna zurück sein würde. Er hatte gesagt, dass er dann keine Spur mehr von der Gallus-Karawane zu sehen wünschte. Mithras!, dachte Primo verzweifelt. Wenn Quintus feststellte, dass Sebastianus noch hier war, musste er dem kaiserlichen Auftrag entsprechen und Sebastianus gefangen nehmen, die Karawane beschlagnahmen und sie alle in Ketten nach Rom zurückschaffen.
Vermutlich morgen würde die Karawane aufbrechen. Sebastianus hatte bereits angeordnet, alles für die Abreise bei Tagesanbruch vorzubereiten. Aber selbst wenn sein Meister versprochen hatte, dass sie, ganz gleich, was bei dem heutigen Gespräch mit dem Chaldäer im Turm zu Babel herauskam, ab morgen gen Rom ziehen würden, blieb Primo skeptisch. Ein Befehl zum Aufbruch war schon häufiger ergangen – und noch immer weilten sie in Babylon!
»Was ist denn da los?« Ulrika blieb unvermittelt stehen. »Schaut euch mal diese vielen Menschen an!«
Auf dem normalerweise verwaisten Wüstenpfad herrschte reger Verkehr. »Alles Gesindel!«, rief Timonides.
Verblüfft starrte Ulrika auf die Esel und Pferde, auf die Wagen und Sänften. Sogar eine reich mit Silbergold verzierte Kutsche war darunter. »An den Gerüchten ist demnach doch etwas Wahres dran«, sagte sie. »Dass Rabbi Judah hier begraben wurde, ist nicht länger ein Geheimnis.«
Miriam und ihre Familie hatten in der Oase hinter den Ruinen – einer kleinen Wildnis mit Palmen, Büschen und Schilfrohr sowie einem artesischen Brunnen – ein Lager errichtet. Kaum dass Ulrika um die Burg bog und der Horde von Menschen ansichtig wurde, sagte sie zu Primo: »Ob du wohl mit deinen Männern die Leute dazu bewegen kannst, diesen Ort zu verlassen?«
Die Menschenmenge bestand aus meist Älteren, aus Behinderten mit Krücken, aus verarmten Frauen mit Säuglingen auf dem Arm. Familien hatten Angehörige – von Gebrechen gezeichnete Töchter und Väter –, auf Tragen herbeigeschafft und sie dort abgestellt, wo der bekannte Glaubensheiler seine letzte Ruhe gefunden hatte. »Diese Menschen sind verzweifelt«, entgegnete Primo. »Sie sind mit ihren Hoffnungen am Ende. Wenn sie glauben, hier ein Wunder zu erleben, können alle Kampfwagen des Reichs sie nicht zur Umkehr bewegen.«
In vorderster Reihe stand Miriam und versuchte, sich derjenigen, die sie mit Fragen bestürmten, zu erwehren. »Kannst du mir sagen, wo
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