Die Schicksalsgabe
»aber es muss schnell gehen. Wenn sie uns erwischen, werden sie uns nachkommen. Primo, du gehst als Erster hinunter und sorgst für ausreichend Licht.«
»Du schickst uns in ein Grab, Meister!«
»Ulrika zufolge ist der Tunnel begehbar.«
Primo verzog das Gesicht. Lieber hätte er sich auf einen Waffengang eingelassen und tapfer gekämpft, als einer Ratte gleich in einem Abwasserkanal zu krepieren. Aber er gehorchte.
»Die Kinder, die Älteren und die Lahmen müssen getragen werden«, gab Sebastianus Anweisungen. »Alle, die unsere Flucht behindern. Primo, nimm genug Fackeln mit und stell sie für die, die dir nachkommen, entlang des Tunnels auf.«
Primo und mehrere seiner Getreuen führten den Zug an, räumten Hindernisse beiseite, postierten Fackeln, leisteten den direkt hinter ihnen Hilfestellung. Hastig, aber geordnet folgten alle anderen. In Abständen schickte Sebastianus weitere Soldaten mit zusätzlichen Fackeln nach unten. Niemand sprach, starrte allerdings zunächst schreckensbleich in die Tiefe. »Habt keine Angst«, beruhigte Ulrika sie, »aber beeilt euch. Und schaut nicht zurück. Folgt einfach dem vor euch.«
Einer nach dem anderen stieg hinunter, die Starken standen den Schwachen bei, ließen Tragen hinunter, halfen denen, die auf Krücken angewiesen waren, hakten die Blinden unter. Der Tunnel war hoch genug, um in aufrechter Haltung immer noch genügend Abstand zur Decke zu haben – hoch genug für die Helme der königlichen Soldaten vor langer Zeit.
Timonides, als Späher eingeteilt, sah Priester und berittene Wachen gefährlich näher kommen. »Keine weiteren Fackeln«, raunte er Sebastianus zu. »Sonst bemerken sie uns.«
Als ein Kind zu weinen anfing, hielt ihm seine Mutter die Hand vor den Mund und verschwand über die steinernen Stufen nach unten.
»Sie sind uns auf den Fersen«, sagte Timonides und zog sich zu Ulrika und Sebastianus am Eingang des Tunnels zurück. »Jetzt muss es doppelt schnell gehen.«
Zwei Männern entglitt die Trage, auf der ein Kind lag. Sebastianus griff zu, drückte das Kind einem der Männer in den Arm. »Rasch! Macht, dass ihr schleunigst weiterkommt!«
Die Palmen wurden bereits vom Licht der Wachen erhellt, Kampfrösser wieherten, Rüstungen und Waffen klirrten bedrohlich, als sie endlich alle im Tunnel waren. »Jetzt bist du dran, alter Freund«, raunte Sebastianus Timonides zu. »Beeil dich! Sie sind da!«
Timonides stieg in den Tunnel hinunter.
»Jetzt du, Ulrika. Und mach denen, die zu langsam gehen, Beine.«
Sie stieg in die Öffnung. Als sie sich nochmals umdrehte, sah sie, dass Sebastianus ihr nicht folgte, sondern von draußen aus den Felsbrocken wieder an seinen Platz rückte.
»Sebastianus!«, rief sie und streckte die Arme nach ihm aus.
»Anders lässt sich dieser Zugang nicht verschließen. Wir sehen uns bei der Karawane wieder. Ich liebe dich, Ulrika.«
»Sebastianus!«
39
»Wenn du doch nur mitkommen würdest, liebe Rachel«, sagte die Frau des Schäfers, die mit ihrer Familie als Letzte die Oase verließ. Sie hatten beschlossen, mit ihrer kleinen Herde nach Jericho zu ziehen, wo der bevorstehende Krieg sie ihrer Meinung nach nicht erreichen würde.
Angesichts der Truppenverstärkungen römischer Militäreinheiten während der letzten Wochen bestand kein Zweifel mehr, dass es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen würde.
»Nein, Mina«, gab Rachel zurück. »Ich bleibe.«
Mina fing ein herumirrendes Lamm ein und drückte es an ihren Busen. »Du wirst uns fehlen«, sagte sie. »Mit deinen Geschichten hast du uns viel Freude bereitet. Allen. Auch den Durchreisenden, die hier eine Rast einlegten. Ich glaube, du hast sie derart gefesselt, dass sie länger blieben als geplant.«
Nur allzu gern hatte Rachel den Bewohnern der Oase ihre Geschichten erzählt, nicht anders als sie seinerzeit ein junges Mädchen namens Ulrika damit unterhalten hatte. Mitreißende Geschichten, in denen es um den Glauben ging und um heldenhaftes Verhalten, die sie einer gebannt lauschenden Zuhörerschaft aus Schafhirten, Dattelbauern, Stellmachern und Durchreisenden vermittelt hatte.
»Dass du allein zurückbleibst, gefällt mir nicht«, meinte Mina noch, während ihr Ehemann sie bereits ungeduldig zu sich winkte. Sie mussten bis zum Einbruch der Nacht in Jericho sein. »Zumal jetzt Almah von uns gegangen ist. Gott schenke ihr die ewige Ruhe.«
»Ich komme schon zurecht«, erwiderte Rachel. »Auch dieser Krieg wird zu Ende gehen, und dann kehren
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