Die Schicksalsgabe
die Menschen in die Oase zurück. Zieht hin in Frieden.«
Über den kahlen Klippen Judäas sah Primo die Geier kreisen.
Irgendwo da drin versteckt sie sich, diese Frau namens Rachel.
Seinen Gefährten gegenüber, die die verlassene Oase durchkämmten, in der noch vor ein paar Tagen mehrere Familien gelebt hatten, schwieg Primo sich aus. Um seinen Meister davor zu bewahren, Hochverrat zu begehen, wenn er die Witwe eines hingerichteten Verbrechers rettete, wollte er auf eigene Faust diese Witwe aufspüren und sie klammheimlich umbringen. Dann würde man Sebastianus nichts anhängen können, und ihre Rückkehr nach Rom würde problemlos verlaufen.
»Einmal in der Woche bin ich mit Rachel hierhergekommen, um Wasser zu holen und zu baden«, sagte Ulrika mit Blick auf den Teich, der aus einer artesischen Quelle mit Süßwasser gespeist wurde. Auf seiner Oberfläche spiegelten sich die umstehenden Palmen und Ölbäume und der wolkenlose Himmel. »Wir haben die Bewohner besucht und von Durchreisenden die neuesten Nachrichten erfahren.« Sie schlenderte über verdorrtes Gras, auf dem Zelte gestanden hatten. »Lange scheinen sie noch nicht fort zu sein.«
»Sie sind überstürzt aufgebrochen«, stellte Sebastianus fest und ahnte den Grund dafür. Römische Truppen waren seit Wochen durch das Tal gezogen, um sich ganz in der Nähe, in der auf einem Hügel gelegenen Garnison in Masada, niederzulassen. »Könnte es sein, dass sich Rachel ihnen angeschlossen hat?«
»Meine Männer und ich werden das Gelände durchsuchen«, sagte Primo, der weiterhin die Geier beobachtete und sich charakteristische Merkmale des Gebiets einprägte, über dem sie kreisten. »Vielleicht hat sie sich nur versteckt.«
Er zügelte sein Pferd und dirigierte es zu schroffen Klippen, zwischen denen unzählige Wadis, Schluchten und Hohlwege eingebettet waren. Welch eigentümliche Wendungen das Schicksal doch nahm!, sagte er sich, als er im Licht des Nachmittags die Landschaft musterte. Eigentlich sollte sein Meister gegenwärtig auf einem Schiff in Richtung Rom unterwegs sein, anstatt in einer politisch brisanten Region nach einem Schatz zu suchen! Wie er inzwischen wusste, ging es nicht um die Rettung eines Ehepaars, sondern nur um die der Frau.
Sie hatten Babylon verlassen, nachdem sie die Truppen des Hohepriesters an Daniels Burg ins Leere hatten laufen lassen. Judahs Anhänger waren verschwunden, so dass Marduks Anhänger keinen Anlass fanden, einen Kampf anzuzetteln.
Während die jetzt von Timonides angeführte Gallus-Karawane über die Haupthandelsstraße weiter nach Westen zog, hatten Sebastianus und Ulrika zusammen mit Primo, sechs Soldaten und ein paar Sklaven eine südliche Route eingeschlagen, die Männer hoch zu Ross, Ulrika auf einem Kamel, dem man des bequemeren Sitzens wegen einen gepolsterten Sattel aufgelegt hatte. Sie waren zügig vorangekommen, hatten nur angehalten, um etwas zu essen und sich ein wenig auszuruhen. Es ging ihnen darum, Judäa zu erreichen, ehe eine Revolte ausbrach.
Den Blick auf die Geier gerichtet, entging Primo nicht, in welche Richtung sie ihre dürren Hälse reckten, welchen bestimmten Punkt sie anzupeilen schienen. Er dirigierte seine Stute in einen felsigen Hohlweg. Stille lag über diesen schmalen Bergeinschnitten, wurde nur durchbrochen vom aufdringlichen Klipperdiklapp der Pferdehufe. Als er mehrere kleine Kalksteinhöhlen inspizierte, hörte er, wie sich Geröll über einen Abhang ergoss, so als wäre jemand ausgerutscht. Er saß ab und ging zu Fuß weiter in das schmale Wadi, das sich zunehmend verengte und ihn schließlich zwang, sich seitwärts hindurchzuschlängeln. Steile Felswände blockierten den Lichteinfall, abgesehen von dem winzigen Keil blauen Himmels war der Pfad in Dunkel getaucht. Primos genagelte schwere Sandalen stapften knirschend über die kleinen Steine, die den Boden bedeckten. Er hielt inne, lauschte. Instinktiv spürte er, dass sich jemand in der Nähe versteckt hielt – ein großes Tier oder ein Mensch –, ihn mit angehaltenem Atem beobachtete, bereit zum Sprung.
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, untersuchte jeden Einschnitt, jede Felsspalte. Bis er ein Keuchen hörte, sich gleichzeitig eine weitere Gerölllawine ergoss, und Primo in der nächsten Felsspalte eine zusammengekauerte dunkle Gestalt erblickte.
Ein hämisches Grinsen umspielte seine Lippen. Primo hatte Rachel gefunden.
»Wie willst du nach all den Jahren noch das Grab finden?«, fragte
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