Die Schicksalsgabe
besucht hatte und keine Familie besaß und die ihrem kleinen Jungen den Namen eines Hundes gegeben hatte, ohne zu ahnen, welch bösen Spott er dadurch würde hören müssen.
Sie hatte ihn auf ihre Art geliebt. Und sie war einst alles gewesen für ihn, den kleinen Fidus.
Beinahe hätte Primo einen Schrei ausgestoßen, als die Vergangenheit verblasste, die Schmerzen schwanden und er sich wieder stark fühlte und im Vollbesitz seiner Manneskraft. Das rattenverseuchte Zimmer, das er sich mit seiner Mutter geteilt hatte, lag hinter ihm, er stand in der Blüte seines Lebens, als sich eine junge Frau für ihn, einen Fremden, verwendet hatte. Und jetzt erweichte die Erinnerung an diese wohlmeinende Geste zusammen mit wiedererwachten zärtlichen Gefühlen für seine Mutter den steinernen Panzer, der sein Herz umschloss. Weil er hässlich war und die Frauen darauf entsprechend reagierten, hatte Primo geglaubt, niemals geliebt zu werden. Diese Frau mit der sanften Stimme jedoch, die ihn an die Liebe seiner Mutter vor langer Zeit erinnerte, machte ihm deutlich, dass er sich getäuscht hatte.
In Blitzesschnelle standen Szenen seines ganzes Lebens vor seinen Augen. Seine Soldatenkarriere. Ob es nicht einfacher war, blindlings Befehlen zu gehorchen, als sie in Frage zu stellen. Ob es nicht einfacher war, seinen Meister zu hintergehen als einen Cäsar. Ob es nicht einfacher war, Frauen zu verabscheuen, als sich nach ihrer Liebe zu verzehren.
Er senkte sein Schwert.
»Wenn du Rachel bist, die Witwe von Jakob, dann sind wir gekommen, um dich zu retten.«
»Um mich zu retten!«
»Eine Frau namens Ulrika und ihr Ehemann, ich und mehrere Soldaten.«
Rachel zog die Stirn in Falten. »Ulrika? Der Name kommt mir bekannt vor. Ja, jetzt erinnere ich mich! Vor Jahren hielt sich eine junge Frau namens Ulrika eine Weile bei mir auf.«
Primo nickte. »Von genau der spreche ich.«
Rachels Augen weiteten sich. »Sie ist hier?«
»Wir wollen dich an einen sicheren Ort bringen.«
»An einen sicheren Ort …«
»Du hast von mir nichts zu befürchten.« Primo schob sein Schwert zurück in die Scheide, streckte dann die Hand aus und sagte mit vor Erregung wie zugeschnürter Kehle: »Beim heiligen Blut des Mithras schwöre ich, dich vor jeglichem Ungemach zu bewahren.«
Als sie in einer nahe gelegenen Schlucht auf Ulrika und Sebastianus stießen, kam es zwischen den beiden Frauen zu einem bewegten Wiedersehen. Anschließend brachten sie Rachel zu dem Lager, das die Sklaven von Sebastianus mittlerweile eingerichtet hatten, versorgten sie mit Wasser und Brot sowie mit Datteln. Sie nahm sich von allem wenig, obwohl ihr anzumerken war, dass sie völlig ausgehungert war. Fragen schwirrten hin und her. »Hast du Babylon erreicht?«
»Warum hast du dich nicht den Familien angeschlossen, die die Oase verließen?«
»Wie kannst du weiterhin hier bleiben, jetzt, da Almah tot ist?«
Erst als sich die Schatten im Tal einnisteten und alle Fragen beantwortet waren, berichtete Ulrika der wiedergefundenen Freundin von ihrer Meditation, von den Erkenntnissen in Shalamandar und von ihrer Suche nach den Verehrungswürdigen. Sie erzählte ihr von Miriam und Judah und dem Wunder, das sich bei Daniels Burg ereignet hatte. »Ich glaube, auch dein Jakob ist ein Verehrungswürdiger. Schon deshalb müssen seine sterblichen Reste beschützt werden.«
»Wie soll das möglich sein?«
»Ich schlage vor«, mischte sich Sebastianus ein, »dass du mit uns nach Rom kommst.«
»Das ist unvorstellbar. Wir müssen bei der Wiederkehr des Herrn hier sein. Und das wird bald geschehen, denn Jeshua hat gesagt, wir würden Zeugen seiner Wiederkehr werden. Das ist der Grund, weshalb ich nicht mit den anderen weggegangen bin.«
»Aber viele deiner Glaubensgenossen sind inzwischen in Rom«, sagte Ulrika. »Miriam erwähnte einen gewissen Simon Petrus, den sie aus Galiläa kennt und der jetzt als Oberhaupt eurer religiösen Gemeinschaft in Rom lebt. Wir würden dich zu ihm bringen.«
Rachel riss erstaunt die Augen auf. »Simon ist in Rom? Dann werde ich mir das nochmals überlegen und um Erleuchtung bitten.«
Primo fand keinen Schlaf.
Er rollte sich auf den Rücken, sah zu den Sternen empor. Dem Stand des Mondes nach zu schließen, zog die Morgendämmerung bald herauf. Er warf die Decke von sich und verließ sein Lager. Die anderen schliefen noch – Sebastianus und Ulrika in ihrem gemeinsamen Zelt, Rachel in einem eigenen, die Sklaven und Soldaten unter freiem
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