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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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sie das Lager verlassen hatte, träumte sie fast jede Nacht von ihm. Ein schwacher, flüchtiger Trost, der schnell zerstob, wenn sie angstvoll aus dem Schlaf fuhr, frierend und hungrig.
    Sie besann sich auf ihre Mission. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, das Volk ihres Vaters zu warnen – zu Tausenden waren ihrer Vorstellung nach Truppen dabei, Kriegsgerät in Stellung zu bringen, brüllten Offiziere hoch zu Ross Befehle, wurden Soldaten zu Fuß und zu Pferde in Kolonnen und Kampflinien gegliedert. Bestimmt bereiteten sie schon die Wurfgeschosse vor, die, wie Ulrika wusste, zu Beginn einer Schlacht eingesetzt wurden – Wurfspieße, Pfeile und Speere.
    Ulrika nahm ihre Wanderung wieder auf. Ein kühler Wind fuhr durch den Wald. Als der bereits lose Riemen an einer Sandale riss, half alles Knoten und Reparieren nichts mehr: Ulrika musste halb barfüßig weiterlaufen. Bald schmerzte ihre rechte Fußsohle so sehr, dass jeder Schritt zur Qual wurde. Die Bündel auf ihrem Rücken schienen schwerer denn je, ihre Schritte wurden zusehends schleppender. Das Hungergefühl, an das sie sich gewöhnt zu haben glaubte, schnitt ihr wie ein Messer durch den Leib. Eine Stimme aus der Vergangenheit, die von Tante Paulina, raunte: »Eine junge Dame isst niemals alles auf. Es schickt sich, einen Rest auf dem Teller zu lassen.«
    Tante Paulina, die Ulrika wie eine zweite Mutter war, weil ihre richtige Mutter, Selene, mit ihren Heilbehandlungen und den vielen Patienten vollauf ausgelastet war. »Ein gut erzogenes junges römisches Mädchen«, pflegte Paulina zu sagen, »enthüllt niemals ihr Haar in der Öffentlichkeit. Es zappelt nicht herum, mischt sich nicht unaufgefordert in Gespräche ein, sitzt jeden Nachmittag sittsam an ihrem Webstuhl, ist immer höflich und freundlich und bereitet sich darauf vor, zu heiraten und Kinder zu bekommen.«
    Während Ulrika über den unebenen Waldboden stolperte und harte Zweige und spitze Steine ihrem nackten Fuß zusetzten, ging ihr durch den Kopf: Ist dies die Strafe dafür, dass ich gegen die Verhaltensregeln verstoßen habe?
    Der Wind wehte ihr nun direkt ins Gesicht, ließ das Laub an den Bäumen rascheln, trug aber auch den Geruch von Rauch in den Wald. Ulrika hob den Kopf. Bildete sie sich das nur ein? Nein, ihre Nase trog sie nicht. Ganz in der Nähe mussten Lagerfeuer sein! Vielleicht war da auch eine Kochstelle, auf der ein Topf mit Essen stand, Fleisch, das sich auf einem Spieß drehte. Vor allem aber – Menschen …
    Neuer Mut durchströmte sie. Aufmerksam suchte sie sich einen Weg durch das Unterholz, ließ den Wald hinter sich und stand plötzlich auf einer großen grünen Wiese. Sie hielt Ausschau nach Hütten, nach Menschen – als sie im hohen Gras einen Mann liegen sah. Schlief er? Ihr fiel die unnatürliche Position auf, in der er da lag. Vorsichtig ging sie auf ihn zu, beugte sich zu ihm hinunter, berührte ihn.
    Er war steif und kalt.
    Ulrika schreckte zurück. Sie blickte sich erneut um.
    Und dann sah sie –
    Eine weitere Leiche. Und noch eine …
    Sie schaute zum gegenüberliegenden Rand der Wiese, meinte, ihren Augen nicht zu trauen: Dort breitete sich eine geisterhafte Landschaft aus, auf aschedunklem Erdreich standen Baumstümpfe, von denen viele noch dünne Rauchfäden absonderten. Das Waldgebiet war in Flammen aufgegangen, das typische Zeichen siegreicher Römer, die am Ende einer Schlacht nur verbrannte Erde hinterließen.
    Wie benommen ging Ulrika Schritt für Schritt über die Wiese, auf der überall verstreut weitere Leichen lagen, bis sie in ein Tal gelangte, das mit Hunderten, vielleicht sogar Tausenden Toten übersät war.
    Taumelnd kämpfte sie sich voran, durch den Gestank, durch die Fliegenschwärme, vorbei an verstümmelten Leibern, einem grotesken Durcheinander von Gliedmaßen und Eingeweiden. Hervorquellende Augen stierten sie an, so als wären sie wütend, sich in einem derartigen Zustand zu präsentieren. Raben hackten auf tote Gesichter ein, flatterten, mit aufgedunsenen Zungen in den Krallen, erschreckt auf, um sich kurz darauf erneut niederzulassen und kreischend um Augen und freigelegte Hoden zu zanken, die Beute zu zerkleinern und sich das zarte Fleisch schmecken zu lassen.
    Entsetzen überkam sie angesichts der Berge von Toten. Sie schluchzte auf, als sie Männern ansichtig wurde, die auf Bäume aufgespießt worden waren. Die Arme hatte man ihnen abgehackt, das viele Blut, das sie vergossen hatten, war schwarz geronnen.
    Ulrika fuhr zusammen.

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