Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
Vom Netzwerk:
Rhein.

9
    Sie hatte sich verirrt.
    Tagelang war sie gewandert, hatte sich an die Karte gehalten und versucht, sich an Einzelheiten zu erinnern, die die Mutter seinerzeit erwähnt hatte – es gab so viele kleine Flüsse, die in ihrem Verlauf Halbmonden ähnelten! –, und jetzt war sie tief in den Wäldern östlich des Rheins gelandet, ohne zu wissen, wo genau sie sich befand.
    Sie hatte, als sie den Rhein erreichte, einen Schiffer bestechen können, sie auf die andere Seite des Flusses überzusetzen. Während der Überfahrt hatte sie sich nach Vatinius und seinen Legionen erkundigt. Aber der Bootsführer hatte so schnell gesprochen, noch dazu in einem für Ulrika schwer verständlichen Dialekt, dass sie nur Bruchstücke aufgeschnappt hatte.
    Eins jedoch begriff sie: Eine große Schlacht stand bevor. Nur wo?
    Sie spähte durch den von Sonnenlicht durchdrungenen Wald, in dem Tannen und Eichen dunkle Schatten warfen, wo hoch droben in den Ästen die Lockrufe von Vögeln zu hören waren und im Gestrüpp ein gelegentliches Rascheln, für Ulrika ein Zeichen, dass sie beobachtet wurde. Hungrige Raubtiere?
    Wo war sie? Als sie vom Fluss aus den Weg nach Osten eingeschlagen hatte, waren ihr zusehends weniger Menschen begegnet, bis sie schließlich mutterseelenallein in den Wäldern gelandet war, lediglich bewaffnet mit einem Dolch und Entschlossenheit. Dass sie sich nach Nordosten bewegte, wusste sie, aber nicht mehr genau,
wohin
. Anders als in Rom gab es in dieser Wildnis keine Wegweiser.
    Es graute ihr davor, eine weitere Nacht in diesem unwirtlichen Gelände zu verbringen. Obwohl bereits in zwei Wochen Sommersonnenwende sein würde und sich die Luft tagsüber zusehends erwärmte, waren die Nächte kalt. In ihre Palla gewickelt, hatte Ulrika in laubbedeckten Erdmulden geschlafen, an Baumstämme gelehnt oder im Schutz von Felsbrocken und sie hatte gebetet, dass sie doch am nächsten Tage endlich ihren Vater finden würde. Ihr Proviant war zur Neige gegangen, ihr Gewand zerrissen, ihre Sandalen lösten sich auf. Sie war am Ende. Erschöpft und ängstlich schleppte sie sich durch einen Wald, der genauso aussah wie der Wald, durch den sie gestern und auch schon vorgestern gezogen war.
    Bei jeder knorrigen Wurzel, über die sie stolperte, bei jedem dornigen Busch, in dem sich ihr Rock verfing, bei jedem Eulenschrei und jedem bedrohlich wirkenden Schatten meinte Ulrika in Tränen ausbrechen zu müssen. Dabei hatte sie anfangs geglaubt, dass sie sich im Land ihrer Vorfahren wie zu Hause fühlen würde. Nach all den Jahren, in denen sie nicht gewusst hatte, wohin sie gehörte, in denen sie sich als Außenseiterin vorgekommen war, selbst in dem Haus, in dem sie mit ihrer Mutter in Rom gelebt hatte, war Ulrika überzeugt gewesen, dass sie sich in Germanien sicher und geborgen fühlen würde. Stattdessen jagte ihr dieser nicht endenwollende Wald Angst ein.
    Wie naiv sie doch gewesen war! Sich einzubilden, es sei ein Leichtes, ihren Vater ausfindig zu machen, wenn all die erfahrenen Späher und Kundschafter, über die Cäsar verfügte, dies nicht vermochten!
    Eine Verschnaufpause lang lehnte sie sich an einen Baum. Die Sonne stand direkt über ihr. Wie lange würde es noch hell sein, ehe sie sich einen sicheren Platz für die Nacht suchen musste? Sollte sie umkehren? Würde sie überhaupt zurückfinden?
    Die Landkarte, bei einem Kartographen in Lugdunum erstanden, der an einem Marktstand seine Waren verhökert und »die neuesten geographischen Details« garantiert hatte, war ihr keine Hilfe gewesen. Da waren Flüsse und Wasserläufe eingezeichnet, die es gar nicht gab, während andere, aus denen Ulrika getrunken hatte, nicht ausgewiesen waren. Gut möglich, dass sie bereits das Tal zwischen den zwei halbmondförmig verlaufenden Flüssen durchquert hatte, ohne es zu merken.
    Vergeblich wünschte sie sich, sie hätte sich nicht heimlich aus dem Lager des Handelszuges geschlichen. Wenn sie wenigstens Timonides Bescheid gesagt hätte! Stattdessen hatte sie ihre Sachen zusammengepackt und war dann unbemerkt hinunter zum Fluss gegangen. Ob sich Sebastianus Gallus und der griechische Astrologe Sorgen um sie machten? Ahnte Sebastianus Gallus, dass sie sich auf die Suche nach ihrer Familie begeben hatte? War er mittlerweile in Colonia und traf Vorbereitungen für die Rückreise nach Rom?
    Denkt er überhaupt an mich?
    Dass ihre Gedanken hier, in dieser Waldeinsamkeit, zu dem Galicier abschweiften, war nicht weiter verwunderlich – seit

Weitere Kostenlose Bücher