Die Schicksalsgabe
begehrte die Frau mit dem Mondstein zu wissen, während sich ihre Gefährtin bislang in Schweigen gehüllt hatte.
Ulrika blinzelte. Jetzt waren die beiden wieder alt. »Ich wollte das Volk meines Vaters vor dem bevorstehenden römischen Angriff warnen. Aber ich bin zu spät gekommen.«
Weise, alte Augen waren forschend auf Ulrika gerichtet. Draußen hörte man Nachtvögel rufen und den Wind rauschen. Schließlich sagte die eine Hüterin des Hains: »Nicht deswegen bist du hergekommen. Das ist nicht der wahre Grund. Dir ist anderes bestimmt, Tochter.« Sie deutete auf das Holzkreuz um Ulrikas Hals. »Du trägst das heilige Symbol Odins. Du bist eine Dienerin der Götter, du kommst ihren Weisungen nach.«
»Warum sollten sie
mich
zu ihrer Dienerin bestimmen?«
»Weil dir eine besondere Gabe eigen ist, Tochter.« Sie schwieg einen Moment. »Du verfügst doch über eine besondere Gabe, nicht wahr?«
Die Wortführerin und auch ihre Gefährtin warteten gespannt ab.
Ulrika ließ die Schale mit der Suppe, die sie bereits an die Lippen gesetzt hatte, sinken. »Was für eine besondere Gabe?«
Ein knochiger Arm berührte Ulrikas Stirn. Für einen Moment erkannte Ulrika jedoch glatte Haut und starke Muskeln. »Es ist die Schicksalsgabe«, flüsterte die Alte.
Der Rauch der niederbrennenden Fackel schien intensiver zu werden. In Ulrikas Kopf drehte sich alles, bis sie schließlich fragte: »Meinst du damit meine Visionen? Aber das ist doch eine Krankheit.«
Die Greisin schüttelte den Kopf, in ihrem weißen Haar schienen Funken zu sprühen. »Eine besondere Gabe ist das, Tochter. Die Visionen erschrecken dich, aber du brauchst keine Angst vor ihnen haben. Du solltest sie bereitwillig annehmen, denn sie sind von den Göttern gesandt und deshalb heilig.«
»Woher weißt du das?«
»Du sagst, du bist die Tochter von Wulf. Und die Schicksalsgabe zu sein wird in seiner Blutlinie vererbt.«
»Aber meine Visionen ergeben keinen Sinn. Ich kann sie auch nicht beherrschen. Sie sind wie zufällige Träume, die kommen und gehen und die ich nicht deuten kann. Was also ist unter dieser Gabe zu verstehen?«
»Du wirst lernen, sie zu steuern und zu deuten. Dann wirst du deine Gabe begreifen.«
»Wozu? Ich will gar nicht wissen, was die Zukunft bringt.«
»Das ist auch nicht der Sinn deiner Visionen.«
»Was dann?« Ulrika stellte die Schale neben sich. »Was bringen mir solch sinnlose Visionen denn dann ein?«
»Sie sind nicht für dich bestimmt, Tochter. Du muss deine Gabe dazu verwenden, anderen zu helfen.«
Ulrika rieb sich die Schläfen. »Ich verstehe noch immer nicht.«
»Diese dir eigene Gabe ist dir von einer langen Ahnenreihe weitervererbt worden. Weil sie aber noch jung und deshalb unkontrolliert ist, ergeben deine Visionen keinen Sinn. Du musst lernen, sie zu zähmen, sie unter Kontrolle zu bringen. Lerne sie einzusetzen, um anderen zu helfen.«
»Was versteht man eigentlich unter einer Schicksalsgabe?«
»Das wirst du erfahren, wenn du dich in Disziplin übst.«
»Wer wird mich diese Disziplin lehren?«
Die silberne Eule an der Stirn der Alten schien im Feuerschein zu glitzern. »Sie muss aus dir selbst kommen. Es wird aber auch Lehrmeister geben. Nur wirst du sie nicht erkennen. Erst wenn du ihnen den Rücken gekehrt hast, wird dir das bewusst werden. Deshalb musst du allen, denen du auf deinem Weg begegnest, dein Herz und deine Sinne öffnen.« Die Frau schwieg eine Weile und fuhr dann fort: »Jetzt aber schlaf weiter, mein Kind. Ruh dich aus. Morgen musst du wieder dorthin zurückkehren, wohin du gehörst. Morgen beginnt für dich eine ganz neue Reise.«
Ulrika ließ sich auf das Lager sinken und schloss die Augen. Im Schutz der Hütte und geborgen unter wohlig warmen Fellen glitt sie hinüber in tiefen Schlaf.
Sie erwachte, als sich die Sonne bereits einen Weg durch die Zweige und Äste über ihr bahnte. Die Ereignisse der letzten Nacht fielen ihr wieder ein. Während sie sich in einem nahe gelegenen Bach wusch und dann mit einem einfachen Frühstück aus Pilzen und Eicheln stärkte, dachte sie über die geheimnisvollen Worte der alten Frau nach.
Kurz bevor sie aufbrach, brachte ihr die ältere Hüterin des Hains Nüsse und Beeren, einen Wasserschlauch und ein Paar Stiefel. »Nimm nicht wieder den Weg über das Schlachtfeld«, warnte sie. »Genau südlich von hier gelangst du zu einem weiteren Wasserlauf. Folge ihm, dann kommst du zu dem breiten Strom, den dein Volk den Rhein nennt. Entlang dieses
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