Die Schicksalsgabe
roch den Regen, der noch an ihm haftete und sie an grüne Wälder und Wiesen denken ließ. Die Zeit schien langsamer zu werden.
Und dann segelte die Wolke gleich einer beeindruckenden Trireme über den Ozean der Nacht, und das Licht der Sterne erhellte wieder den kleinen Gastraum.
»Unter deinen Leuten ist ein Verräter«, sagte sie schließlich, »ein Mann, der dir nahesteht, wird dich hintergehen.«
»Wer? Wer ist es?«
»Das weiß ich nicht. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen.«
In Wahrheit war da gar kein Gesicht, es war auch keine Vision, die sie eben erlebt hatte, sondern ein
Gefühl.
Als sie mit den Fingerspitzen sein Gesicht berührt hatte, überkam sie eine Welle von Enttäuschung und Ernüchterung, wie sie schlimmer nicht hätte sein können. Gemeinster, äußerster Verrat. Wie ein heftiger Schlag, der Sebastianus Gallus schwer zusetzen würde.
»Einer von Primos Rekruten vielleicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ein Freund.«
»Ich vertraue allen, die mir nahestehen, aber ich vertraue auch dir, Ulrika, dir und deinen Eingebungen. Deshalb werde ich vorsichtig und aufmerksam sein.« Er ließ ihre Schultern los, trat einen Schritt zurück. »Wir verabschieden uns morgen früh, wenn wir in der Karawanserei aufbrechen.«
Ulrika sah ihn über den Flur zurück in sein Zimmer gehen. Sie schloss ihre Tür, lehnte sich mit dem Rücken daran und flehte zu den Göttern: »Bitte beschützt diesen Mann. Wacht über ihn. Bringt ihn heil zu mir zurück.«
Sebastianus brauchte gar nicht erst anzuklopfen. Ulrika wusste, dass er es war, der auf der anderen Seite ihrer Tür stand. Sie öffnete ihm, und da war er, ohne seinen Umhang, Brust und Arme entblößt, ein Ausdruck von Begehren und Unsicherheit auf seinem Gesicht. Er streckte die Hand aus, und Ulrika sah die Muschel von dem alten Altar in Galicien, die er immer um den Hals getragen hatte. »Für dich«, sagte er, »sie birgt große Kraft.«
Sie nahm das Geschenk entgegen und versprach mit leiser Stimme, sie stets zu tragen.
»Ich möchte dich spüren«, raunte er.
Sie schaute ihm in die Augen, die sie zu umfassen, sie in seine Gedanken und in sein Herz zu ziehen schienen. »Ja«, erwiderte sie.
Gleichzeitig streckten sie die Arme aus, umfassten sich, schmiegten sich aneinander. Ihre Hände berührten die Haut des anderen, tasteten sich vor, erkundeten die Landkarte der Sehnsucht. Ulrika spürte seine Lippen auf den ihren, verlor sich in der sanften Glut seines Kusses. Dann kostete sie den Geschmack seiner Haut, erforschte den Puls an seiner Halsbeuge, während seine Hände über ihren Rücken glitten, sich um ihr Gesäß legten, sanft, forschend, unaufhaltsam. Zwischen Küssen waren atemlos gehauchte Worte zu hören: »Ich möchte …« »Ich will …« »Du bist …« »Wir sind …«
Ulrika presste sich an Sebastianus. Als sie seine Männlichkeit spürte, loderte Begehren in ihr auf, ihr heißer feuchter Körper drängte sich an den des Galiciers und sie spürte, wie Sebastianus sich danach sehnte, in sie einzudringen, seinen Körper und seine Lebenskraft mit ihrer zu verschmelzen, ein Teil von ihr zu werden, sie zu einem Teil von sich zu machen.
Unvermittelt hörten sie aus dem Nebenzimmer Gepolter und schwere Schritte und die mürrische Stimme von Timonides, der offenbar seine Sachen packte und laut vernehmbar zum Aufbruch drängte.
Widerstrebend gab Sebastianus Ulrika frei. »Es sieht ganz danach aus, als sei uns nicht vergönnt, auch nur einen Moment lang allein zu sein«, sagte er mit Blick auf die Wand, die angesichts der Betriebsamkeit des Astrologen schier zu erbeben schien. »Wenn Timonides sagt, die Sterne treiben uns zur Eile an, dann ist das auch so gemeint.«
Warum?, wollte sie fragen. Es schmerzte sie, dass er von ihr abgelassen hatte, dass kalte Luft zwischen sie fuhr und ihre Arme ins Leere griffen. Ihre Lippen brannten, ihre Haut kribbelte. Sie wollte nicht, dass es aufhörte.
»Ulrika«, sagte Sebastianus und zog sie ein letztes Mal an sich. »Ich möchte bei dir bleiben, mit dir zusammen sein. Aber Timonides hat recht. Ich muss aufbrechen. Dich lieben und von dir geliebt werden – ein solches Privileg, dieser Luxus steht mir nicht zu, nicht jetzt, da ich unter Cäsars Befehl stehe.«
Er küsste sie auf die Stirn.
»Ulrika, Ulrika.« Er konnte ihren Namen nicht oft genug wiederholen. »Es heißt, dass Eros, der Gott der Liebe und des Begehrens, ständig Menschen spaltet und wieder zusammensetzt. Und das ist wirklich so!
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