Die Schicksalsgabe
starrte Ulrika an, worauf sie sich bewusst wurde, dass sie nichts weiter anhatte als ein knielanges dünnes Nachthemd und dass ihr Haar offen auf den Busen fiel.
Sebastianus schluckte. »Ulrika«, begann er, »Timonides sagt, dass deine Mutter sich in Jerusalem aufhält.«
»Meine Mutter! Was …«
Der Astrologe kam hinzu, schwenkte einen Papyrus. »Ja doch, daran besteht kein Zweifel. Deine Mutter ist in Jerusalem, bei Freunden.«
Sie blinzelte, sah von Sebastianus zu Timonides. »Wieso liest du um diese Zeit aus den Sternen? Und warum sollte …«
»Ich bin aus einem Traum hochgeschreckt«, sprudelte der Astrologe hervor, »der mir bedeutete, aus dem Fenster zu schauen. Dort sah ich einen Stern über den Himmel ziehen. Für mich war das die Aufforderung, das Horoskop meines Meisters zu erstellen – und prompt ersah ich daraus eine neue Botschaft von den Göttern. Mein Meister soll Antiochia unverzüglich verlassen und Richtung Babylon ziehen, und du sollst nach Jerusalem aufbrechen.«
»Wir haben eine Zeitlang in Jerusalem gelebt«, sagte Ulrika. »Im Haus einer gewissen Elizabeth …«
»Gewiss doch, ja, ja.« Timonides eilte schon wieder davon, nicht ohne zu wiederholen: »Du musst unverzüglich die Reise beginnen, um deine Mutter noch dort anzutreffen. Im Haus von Elizabeth …«
Seine Stimme verhallte, und Ulrika war mit Sebastianus allein. Unausgesprochenes auf den Lippen, trafen sich im Halbdunkel ihre Blicke.
»Meine Mutter wird mir helfen«, hörte sich Ulrika sagen. Sebastianus’ nackter Oberkörper, der unter dem hastig übergeworfenen Umhang zu erkennen war, raubte ihr den Atem. Sie versuchte sich auf die Nachricht des Astrologen zu konzentrieren. »Sie wird mir sagen, wo ich Shalamandar und die Kristallenen Teiche finde.«
»Ich werde dich nach Jerusalem bringen …«, stieß Sebastianus hervor.
Ulrika legte ihm die Fingerspitzen auf die Lippen. »Nein, Sebastianus, du wirst nach Osten weiterziehen. Gemäß der Weisung der Sterne musst du bei Tagesanbruch aufbrechen.«
Schweigen trat ein, Ulrika zog ihre Finger zurück, die vor Verlangen geradezu vibrierten. Sehnsucht glänzte in ihren Augen auf. Aber sie durfte ihr jetzt nicht nachgeben, durfte Sebastianus nicht bitten, von seinem Weg abzuweichen und sie nach Jerusalem zu begleiten.
Sebastianus fand als Erster die Stimme wieder. »Ich werde veranlassen, dass Syphax und ein Trupp Männer dich begleiten. Zu deinem Schutz.«
»Danke.« Einmal mehr kam ihr dieser einflussreiche Mann zu Hilfe. Ulrika kannte Syphax, einen Numidier mit steinernen Gesichtszügen von der nördlichen Küste Afrikas, der sich als Leibwächter und Söldner verdingte. Seit sechs Jahren begleitete er Sebastianus’ Karawanen, und sie wusste, dass sie ihm vertrauen konnte.
»Er wird dafür sorgen«, fuhr Sebastianus fort, »dass du heil zu deiner Mutter in Jerusalem gelangst.« Er sah sie nochmals an, und dann, aus einem Impuls heraus, fasste er sie um die Schultern und zog sie an sich. »Ulrika«, sagte er heiser, »wenn es die Götter so wollen und alles gut verläuft, werde ich Babylon in sechs Wochen erreichen. Ich habe nicht vor, noch vor dem Fest der Sommersonnenwende in den Fernen Osten aufzubrechen, denn der Tag nach dem Fest ist der, der für eine lange Reise das meiste Glück verheißt. Sobald du deine Mutter gefunden hast und weißt, wo Shalamandar ist, komm zu mir nach Babylon. Ich werde dort bis zum letztmöglichen Augenblick auf dich warten.«
Die Kehle wurde ihr eng. Sie hatte nicht gewagt zu hoffen, dass er diese Bitte an sie richten würde.
»Ja«, flüsterte sie. »Ich werde zu dir nach Babylon kommen.« Sie berührte Sebastianus’ Kinn, und als sie die weichen, bronzefarbenen Stoppeln seines Bartes spürte, sah sie –
Sebastianus runzelte die Stirn. »Was ist?«
Ulrika öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus.
Er wartete ab. Hatte sie etwa eine Vision? Dergleichen hatte er bei ihr bereits beobachtet, hatte gesehen, wie dann ihre Nasenflügel bebten, ihre Pupillen sich weiteten, die Farbe aus ihrem Gesicht wich, sich die Haut an ihren Schläfen spannte.
Über dem schlafenden Antiochia schob sich eine Wolke vor den Mond und die hellen Sterne, tauchte die Räume des Gasthofs in Dunkelheit. Umso deutlicher merkten Sebastianus und Ulrika, wie sich ihrer beider Sinne schärften. Sebastianus, der noch immer Ulrikas Schultern umfasst hielt, nahm ihre Haut wahr. Weich wie Schwanenflaum und Nebel fühlte sie sich an. Ulrika hingegen
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