Die Schicksalsgabe
stemmte seinen massigen Körper vom Boden hoch, suchte in der kalten Nachtluft nach einem Plan. Sie mussten sofort die Stadt verlassen und längst außer Reichweite sein, wenn der Magistrat aufdeckte, wer der kaltblütige Mörder von Bessas dem heiligen Einsiedler war. Es dürfte ein Leichtes sein, überlegte Timonides, Sebastianus zu überzeugen, dass ihm ein rasches Vorankommen dienlich ist. Er hält sich immer an das, was die Sterne sagen …
Als er an Ulrika dachte, seufzte er tief auf. Sie durfte auf keinen Fall mitkommen, weil Nestor ihr mit Sicherheit weiterhin Geschenke machen wollte und sich noch wer weiß was einfallen lassen würde, um ihr eine Freude zu bereiten.
Ich werde ihr sagen, dass ich für sie die Sterne befragt und durch sie erfahren habe, dass sich ihre Mutter in Jerusalem aufhält.
Wenn sich Sebastianus nach Bessas erkundigt, werde ich ihm sagen, dass man dem Einsiedler nicht trauen kann.
Er wies Nestor an, zu Bett zu gehen – gewiss doch, versicherte er ihm noch, sein Geschenk sei schön und Papa freue sich darüber –, und holte dann aus seinem Reisebündel den Kasten mit den Aufzeichnungen und Instrumenten. Das Gewicht der ganzen Welt schien auf ihm zu lasten. Alles in ihm sträubte sich dagegen, schon wieder zu lügen, sich erneut der Verhöhnung und des Frevels schuldig zu machen, die Götter zu ergrimmen und sich ihren Zorn zuzuziehen. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Er musste seinen Sohn retten, notfalls auf Kosten seiner eigenen unsterblichen Seele.
Als er Nestor als Säugling in den Armen gehalten hatte, hatte Timonides etwas ganz Wesentliches erkannt: dass es nicht die Eltern waren, die das Kind erschufen, sondern dass das Kind die Eltern erschuf. Und während andere in Nestor einen Tölpel sahen, sah Timonides, der an die Seelenwanderung glaubte, hinter die simplen Gesichtszüge seines Sohnes und dachte an die unstete Seele, die dahinter lauern mochte. Vielleicht besaß Nestor ja die wiedergeborene Seele des größten Philosophen, den es je gegeben hatte.
Ob teurer Sohn oder großer Philosoph – dass man ihn hinrichtete, konnte Timonides auf keinen Fall zulassen.
Er zündete eine Lampe an und machte sich daran, das Horoskop seines Meisters zu erstellen, in der Hoffnung, etwas Wahres mit Unwahrem vermischen zu können. Auf das übliche Ritual, vorher zu baden und zu beten und frische Kleider anzulegen, verzichtete er, würde ihn doch die Lüge nur aufs Neue besudeln.
Als er seine Berechnungen durchging, Zahlen und Grade und Winkel niederschrieb, Sonnenzeichen und Mondhäuser notierte, und während Antiochia schlief und die Sterne über ihm ihrer Bahn folgten, ohne dem Sterndeuter im Gasthaus zum blauen Pfau, der über seinen Gleichungen und Zahlenreihen schwitzte, Aufmerksamkeit zu schenken, stieß Timonides unerwartet auf einen neuen Hinweis.
Er erstarrte. Fluchte leise. Wischte sich über das schweißnasse Gesicht. Griff zur Feder und rechnete nochmals nach.
Völlig entgeistert lehnte er sich schließlich zurück. Kein Zweifel: Die Aspekte der Progression und der transitierenden Planeten auf dem Geburtsplaneten von Sebastianus wiesen eindeutig auf eine neue Richtung in seinem Leben hin! Durch die präzise Anordnung der Himmelskörper war die neue Botschaft der Götter unmöglich anders zu deuten: Sebastianus sollte von Antiochia aus einen
südlichen Weg
einschlagen – er und Ulrika sollten demnach gemeinsam nach Süden ziehen.
Timonides schloss die Augen und schluckte. Unheil über Unheil! Sein Schicksal war besiegelt, zumal er jetzt nicht nur ein Horoskop verfälschen, sondern obendrein die unmissverständliche göttliche Botschaft in den Sternen missachten würde.
Schweren Herzens, aber in dem Bewusstsein, dass er keine andere Wahl hatte und die Zeit drängte, eilte Timonides über den Flur und pochte an die Tür seines Herrn.
Ulrika schlief nicht, als es an ihrer Tür klopfte. Von einem Schrei geweckt, hatte sie in ihrem dunklen Zimmer gelegen und überlegt, ob da gerade tatsächlich jemand geschrien haben könnte oder ob sie das vielleicht nur geträumt hätte. Aber gleich darauf hatte sie gedämpfte Stimmen gehört, gefolgt von lähmender Stille, dann Schritte auf dem Flur, ein Hämmern an einer Tür und wiederum Stimmen, diesmal jedoch laute und hastige.
Sie war drauf und dran gewesen nachzusehen, was los war, als jemand an ihre Tür klopfte. Sie öffnete. Vor ihr stand Sebastianus, in einen hastig übergeworfenen Umhang gehüllt.
Er
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