Die Schicksalsgabe
Mein früheres Ich ist völlig zertrümmert und dann neu geformt worden. Der Mensch, der ich bis jetzt war, so zurückhaltend in seinen Gefühlen und mit so viel Kontrolle über sein Herz, der existiert nicht mehr. Warum Eros mich für diese besondere Freude ausgewählt hat, weiß ich nicht, aber ich bin sicher, dass mir das nicht zusteht.
Ich möchte dich nicht verlassen, Ulrika. Aber ich muss tun, was die Sterne mir vorschreiben, denn das ist der Wille der Götter. Kein Mensch kann sich seinen Sternen und damit seinem Schicksal widersetzen. Woran ich leidenschaftlich und aus ganzem Herzen glaube, ist, dass im Universum Ordnung herrscht. Und sollten die Götter es für richtig erachten, dass wir uns in Babylon
nicht
wiedersehen, dann bete ich dafür, dass du findest, was du suchst, auch die Antworten auf die Geheimnisse in dir selbst. Und wenn ich dann aus China zurückkomme, was ich bestimmt tue, schon weil es so in den Sternen steht, werde ich dich suchen. Und ich werde dich finden, Ulrika.«
15
Der beißende Geruch von Schafwolle und Ziegenhäuten vermischte sich mit dem Duft der Öllampe, nachdem Ulrika mit Hilfe eines Feuersteins den Docht zum Brennen gebracht hatte.
Flackerndes Licht erhellte das Zelt; draußen war es dunkel, die Sonne würde bald aufgehen, und dann würden Küchendüfte in ihr etwas abseits gelegenes Zelt dringen.
Ulrika kämmte ihr Haar, dann fasste sie nach der Muschel auf ihrem Busen, die sie darin bestärkte, Sebastianus irgendwann wiederzusehen. Mit ihrem Begleiter und seinen Männern hatte sie Antiochia vor Wochen verlassen; in Jerusalem angekommen, war es ihr trotz intensiver Suche nicht gelungen, ihre Mutter ausfindig zu machen. Alle ihre Fragen über Selenes Verbleib blieben ergebnislos; niedergeschlagen musste sie erkennen, dass ihre Reise ein Fehlschlag war. Eines Morgens hatte sie Syphax dann angewiesen, sie nach Babylon zu bringen: dort wollte sie sich wieder dem Handelszug von Sebastianus anschließen.
Bei dem Gedanken an das Wiedersehen klopfte ihr Herz schneller. Als sie sich in Antiochia Lebewohl gesagt hatten und jeder seinem Weg gefolgt war, hatte sie nicht mit diesem schrecklichen Gefühl der Leere gerechnet, das in den ersten Tagen nach ihrer Trennung über sie gekommen war. Während sie in dem überdachten Wagen unter dem Schutz von Syphax und seiner Truppe einer alten Straße nach Süden gefolgt war, hatte eine ungewohnte Traurigkeit von ihr Besitz ergriffen. Sie hatte all ihre Willenskraft aufbringen müssen, um nicht die Anweisung zur Umkehr zu geben, zurück zu Sebastianus.
Es kam ihr schier unerträglich vor, von ihm getrennt zu sein.
Gestern nun hatten sie Jerusalem wieder verlassen und am Fuße der Berge, die sich über eine öde und verdorrte Region aus Gestein und Sand erhoben, ein Nachtlager aufgeschlagen. Ihr nächster Halt sollte Jericho sein, von wo aus sie eine alte Handelsroute durch die Wüste nach Babylon einzuschlagen gedachten. Ulrika zitterte vor Erregung. Jeden wachen Moment hatte sie an Sebastianus gedacht, an ihre letzte gemeinsame Nacht in Antiochia, an ihre leidenschaftlichen Küsse. Sobald sie die Augen schloss, spürte sie ihn wieder, spürte seinen Körper, seine Kraft. Seine Berührung. Seinen Geschmack. In Babylon würden sie sich endlich lieben können.
Und dann wird Sebastianus nach China ziehen, während ich Shalamandar und seine Kristallenen Teiche suche. Danach werden mein Liebster und ich vereint sein, ganz bestimmt.
Als sie aus ihrem Zelt in die kühle bleiche Dämmerung hinaustrat, stellte sie überrascht fest, dass von Syphax und seinen Männern noch nichts zu sehen war. Waren sie vielleicht auf Jagd gegangen? Oder suchten sie Brennmaterial für das Feuer? Als dann die Sonne über die schroffen Klippen spitzte und auf den Lagerplatz fiel, sah Ulrika, dass die Pferde, die Packesel und die Zelte ebenfalls verschwunden waren.
Sie drehte sich langsam nach allen Seiten um, suchte, zuweilen den scharfen Wind im Gesicht, die Gegend ab, aber alles, was sie erblickte, waren nackte Felsen und graubraune Berge. Goldene Strahlen des anbrechenden Tages lösten nach und nach Schatten auf, bis sich unter dem blauen Himmel in allen Richtungen eine einzige gelbbraune Wüstenei erstreckte. Obwohl man gerade erst die Frühjahrssonnenwende gefeiert hatte, gab es kaum etwas Grünes, war diese Öde durchsetzt mit Felsen und Steinen, Geröll und Sand, Schluchten und Hochland – und weit und breit kein Mensch zu sehen.
Ulrika ahnte, warum die
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