Die Schicksalsgabe
Ulrika.
»Bei den Sternen!«, entrang es sich Timonides, als er abermals spürte, wie der Lauch in seinem Bauch rumorte und wieder hochkam. Er übergab sich noch zweimal, ehe er den Kopf einzog, weil er befürchtete, man könnte seinen Aufschrei gehört haben. Aber die Lehmziegel der Gasthauswände waren solide. Wären die anderen erwacht, hätten sie sich bereits bemerkbar gemacht. Da jedoch alles still blieb, stand Timonides ganz allein vor einem monströsen Problem.
Schrecklich genug, dass Nestor einen Menschen getötet hatte. Aber Bessas! Einen Mann, der, wie Sebastianus berichtet hatte, in dem Ruf stand, den Leuten hier Glück zu bringen.
Und die Leute in dieser Gegend sahen es bestimmt nicht gern, wenn solch einem heiligen Mann der Kopf abgeschlagen wurde.
Als Timonides die ungeheure Tragweite von Nestors Vergehen begriff, war ihm, als würden ihm alle Muskeln den Dienst versagen und er die Besinnung verlieren. Aber er musste sich zusammenreißen, einen kühlen Kopf bewahren. Was also war zu tun?
Sie werden meinen Sohn abholen …
Bestimmt hatte Nestor, der noch immer grinsend vor ihm stand und sich seiner Untat gar nicht bewusst war, weder Vorsorge getroffen, bei seinem grausigen Tun unbeobachtet zu bleiben, noch seine Spuren verwischt. Gut möglich, dass er sein »Geschenk« sogar einem Vorbeikommenden gezeigt hatte! Zeter und Geschrei konnten jeden Moment losbrechen, die Nachtwache gleich die Straße entlangmarschiert kommen, um Nestor abzuführen und hinrichten zu lassen.
Timonides versagten die Beine, er sackte zu Boden. Man wird ihn ans Kreuz schlagen, meinen Sohn …
Nestor sah seinen Vater zusammenbrechen, was aber seiner Freude über das Geschenk, das er für die schöne junge Frau mit dem sonnenhellen Haar mitgebracht hatte, keinen Abbruch tat.
Er liebte Rika. Alles würde er tun für sie, die so einfühlsam auf ihn einredete, ihn beruhigte, ihm sagte, alles würde gut werden. Er liebte ihre Stimme. Sie streichelte seine Seele. Sie war für ihn wie die zärtliche Berührung einer Mutter.
Er musste kichern, als er auf den Sack sah. In seiner geistigen Beschränktheit hatte er so viel verstanden, dass Papa und Onkel Sebastianus einen Teich suchten, zu dem sie Rika bringen wollten. Nur schienen sich Papa und Onkel Sebastianus schwerzutun, diesen Teich zu finden. Allerdings gab es da einen Mann, der das wusste, es aber nicht verriet. Papa hatte gesagt, diese Information sollte man ihm aus dem Gehirn kratzen. Onkel Sebastianus zufolge lebte jener Mann in einer Hütte in der Nähe der großen Daphne-Statue, an die sich Nestor sehr wohl erinnerte, weil sie so komisch aussah: eine Frau, der Äste aus dem Haar wuchsen. Papa sollte den Teich aus dem Hirn des Mannes rauskratzen – und hier war es!
Ein Geschenk für Rika, das Mädchen mit dem sonnenhellen Haar.
Timonides hob seinen sorgenschweren Kopf, sah auf zu seinem Sohn, der noch immer grinsend an der Tür stand, und hatte das Gefühl, sein Herz würde in tausend Stücke zerspringen.
Urplötzlich kam sich der Astrologe, der die Botschaften der Sterne so präzise zu deuten verstand, dass er einem Freund sagen konnte, ob er sich für Bohnen oder Linsen zum Abendessen entscheiden sollte, dieser Mann, der, wenn er sein Gesicht zum dunklen Nachthimmel erhob, Venus ausmachen und genau sagen konnte, wo sie in einer Stunde oder einem Monat stehen würde, dieser Mann, der mit geschlossenen Augen auf den so weit entfernten Mars deuten konnte, während andere den Himmel absuchten und fragten: »Wo ist er?« – dieser Mann kam sich urplötzlich dumm und ungeschickt und völlig hilflos vor.
Bislang auf Präzision und Überprüfung bedacht, hatte sich sein Leben unvermittelt in die Myriaden von Fasern zerfranst, aus denen es zusammengefügt war.
Das ist sie, dachte er ergeben. Das ist die Katastrophe, die sich abgezeichnet hatte. Und alles ist meine Schuld. Ich habe sie heraufbeschworen. Ich habe die Sterne und meine heilige Berufung zu meinem Vorteil missbraucht. Ich wollte das Mädchen mit ihren heilenden Fähigkeiten in meiner Nähe wissen, und ich habe dadurch Unheil über mich und meinen Herrn gebracht.
Es bot sich nur eine Konsequenz: Timonides der Astrologe musste erneut betrügen.
Das ist die Strafe dafür, sagte er sich, dass ich mit dieser Lügerei überhaupt angefangen habe. Jetzt war er dazu verdammt, weiterhin zu lügen. Denn so lange er lebte, konnte er Sebastianus unmöglich sagen, was sich heute Nacht zugetragen hatte.
Er
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