Die Schicksalsgabe
Süßwassersee sei, sondern ein »totes« Salzmeer ohne Pflanzen oder Fische. Dennoch hatte sie sich trinkbares Wasser erhofft. Aber so weit das Auge reichte, war der salzigverkrustete Küstenstreifen dick mit faulig riechenden Ablagerungen von Mineralien überzogen, nirgendwo ein Zelt, keine Menschenseele, nicht einmal ein einsames Kamel. Kein Süßwasser also.
Auf der anderen Seite des flachen gläsernen Meers, an der Ostküste, erhoben sich Berge; nichts deutete auf ein Dorf oder eine Stadt hin. Nördlich, zu ihrer Linken, streifte der Jordan die dicht besiedelte und blühende Stadt Jericho – aber bis dorthin waren es noch mehrere Meilen, zu weit, um es noch bis zum Abend dorthin zu schaffen. Südlich, zu ihrer Rechten, lag unbekanntes Territorium, und in den zerklüfteten Bergen hinter ihr im Westen schien es kein menschliches Leben zu geben.
Das Meeresufer war durchsetzt mit Streifen von gefährlichem Treibsand und Teer sowie von Asphaltlöchern, aus denen sich ätzender Gestank verbreitete. Angesichts der einbrechenden Nacht wagte sich Ulrika nicht weiter auf derart unwirtliches Gelände vor.
Sie suchte die Hügel nach einem Unterschlupf ab. Nach einer Höhle, einem Wasserloch oder einer Quelle.
Ihr Blick schweifte zum Himmel, an dem sich die ersten Sterne, wenn auch noch blass, bemerkbar machten. Dieselben Sterne, die Sebastianus sehen konnte …
Unvermittelt zerriss ein Schrei die Stille der Wüste. Das Heulen eines Schakals. Gleich darauf drang weiteres Heulen zum sich dunkel färbenden Himmel empor. Ulrika versuchte, die Laute zu orten. Ein Rudel hungriger Schakale würde sich gewiss nicht scheuen, einen wehrlosen Menschen anzugreifen.
Als sie nach dem Haltestrick des Esels griff, um ihn in die Sicherheit der Berge zurückzuführen, heulten die Schakale erneut, worauf sich der Esel aufbäumte. »Stehen bleiben!«, schrie Ulrika, aber das Tier machte sich mitsamt ihrer Habe aus dem Staub.
Entsetzt sah sie dem Esel nach und wandte sich dann instinktiv den westlichen Bergen zu, die sich gezackt und schwarz von einem lavendelfarbenen Himmel abhoben. Die Sonne war untergegangen, die Dämmerung angebrochen. Sie würde nicht lange währen; ein kurzes Zwielicht, dann läge die Wüste in Dunkelheit getaucht – und von Gefahren erfüllt.
Sie schlang ihre Palla fest um sich und stapfte in westlicher Richtung los, auf die Ausläufer der Berge zu, wo tiefschwarze Schatten Schutz verhießen.
Da der Mond noch nicht aufgegangen war und die Sterne noch nicht wie helle Lichter am Himmel glänzten, war es jetzt bereits so dunkel, dass Ulrika auf jeden ihrer Schritte achten musste, war doch der Boden nicht nur steinig und übersät mit Geröll, sondern auch durchzogen von den Erdlöchern von Schlangen und Nagetieren.
Der Wind nahm an Stärke zu, drang eisig und beißend durch ihre Palla. Ulrika dachte an ihren dicken Umhang, der sich zusammengerollt auf dem Rücken des Esels befand. Das Tier dürfte sich nicht sehr weit entfernt haben, aber es in dieser Finsternis zu finden, war aussichtslos.
Die Schakale heulten erneut, schienen um einiges näher zu sein. Ulrika schritt schneller aus. Unvermittelt gab der Boden nach, und sie stürzte. Fühlte einen stechenden Schmerz im Bein. Sie rappelte sich auf und sah, dass sie in ein Loch getreten war, mit dem Ergebnis, dass sie sich den Knöchel verstaucht hatte. Sie konnte kaum auftreten, humpelte jetzt unter Schmerzen langsam weiter, schalt sich, nicht vorsichtiger gewesen zu sein, geschweige denn so vernünftig, sich auf den Esel zu setzen.
Bei jedem Schritt schoss ihr der Schmerz in den Knöchel. Weiterzugehen wurde unmöglich. Sie dachte an ihren Medizinkasten, an die schmerzbetäubenden Mittel, die ihr das Gehen ermöglicht hätten. Allerdings waren das Puder oder Pillen, für deren Einnahme Trinkwasser erforderlich war. Ein Sirup aus Weidenrinde hätte ihre Schmerzen gelindert, aber um ihn zu verdünnen, brauchte man ebenfalls Wasser.
An den Ausläufern der Berge angelangt, ließ Ulrika ihren Blick über das Gelände streifen. Die Rinnen und Schluchten lagen im Dunkeln, Einzelheiten waren nicht zu erkennen. War diese Höhle dort von Felsbrocken blockiert? War jene von grünem Gebüsch umgeben und somit ein Hinweis auf Wasser? Und dieser dunkle Fleck, war das eine Höhle oder der Bau eines Tieres?
Wofür sollte sie sich entscheiden?
Sie schaute dahin und dorthin, ließ ihre Blicke über die trostlose Strecke zwischen Bergen und Salzmeer vor und zurück
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