Die Schicksalsgabe
Männer in die Nacht entschwunden waren: Sie hatte Syphax gesagt, sie habe kein Geld mehr; er und seine Männer könnten ihren Lohn erst erhalten, wenn sie wieder zur Karawane ihres Dienstherrn stießen. Syphax und seine Leute aber waren, wie Ulrika wusste, auf Geld aus. Sie hatten gemurrt, dass sie dann nach China ziehen müssten und über die Kante der Erde stürzen würden, weshalb sie wohl die Gelegenheit wahrgenommen hatten, sich von Sebastianus Gallus loszusagen, um sich anderweitig zu verdingen, wo es sicherer für sie war und auch einträglicher. Zweifellos hatten sie während ihres Aufenthalts in Jerusalem bereits entsprechende Erkundigungen eingeholt.
Wenigstens hatten sie Ulrika nicht ohne Proviant zurückgelassen. Am Eingang ihres Zelts lehnten ein Sack Linsen, ein Beutel mit Brot und ein ansehnlicher Wasserschlauch. Und mit seinem Haltestrick an einem Felsblock angebunden, graste im spärlichen Unkraut sogar ein Esel.
Als die Sonne über den Hügeln stand, packte Ulrika ihre Sachen zusammen. Jericho lag im Nordosten, nur wenige Meilen entfernt. Direkt vor ihr, wenn auch nicht zu sehen, erstreckte sich das Salzmeer, in das der Jordan mündete. Ich werde nach Osten gehen, sagte sie sich, und dann, wenn ich das Meer erreiche, nach Norden. In Jericho kann ich mich einer Karawane nach Babylon anschließen.
Sie beschloss, das Zelt stehen zu lassen; es abzubauen, zusammenzufalten und dem Esel aufzubürden war ihr zu mühsam. Das kleine Tier sollte den Proviant, das Wasser und ihre Sachen tragen; sie selbst wollte zu Fuß gehen. Wie bestürzt war sie jedoch, als sie kurz vor dem Aufladen entdeckte, dass die Säcke aufgeschlitzt waren, ihr Inhalt überall verstreut und mit Vogelmist durchsetzt. Nicht mehr zu retten! Auch der Wasserschlauch war durchlöchert. Ulrika geriet in Panik, als sie jetzt Tierspuren im Sand entdeckte, Abdrücke von den Pranken einer riesigen Katze – einem Löwen oder einem Leoparden. Und das Wasser war längst in die Erde gesickert.
Was bedeutete, dass sie sich ganz allein in der judäischen Wildnis befand, ohne Nahrung und ohne Wasser.
Die Morgenluft war frisch und prickelnd, der Himmel ein tiefes Blau mit dahinjagenden weißen Wolken. Ulrika führte den Esel, der ihre Reisebündel und den Medizinkasten trug, an seinem Haltestrick um Felsen und Gesteinsbrocken herum, immer in der Hoffnung, das Gelände würde bald flacher und auch grüner werden. Obwohl es Frühling war und es auch hier geregnet hatte, welkte das Wenige, was hier gegrünt und geblüht hatte, bereits; vorherrschend waren graubraune Berge mit tiefen Schluchten.
Von der Sonne geblendet, zog Ulrika unbeirrt gen Osten, immer auf der Suche nach Hinweisen auf eine Unterkunft, selbst wenn es nur das Zelt eines einsamen Schafhirten wäre. Bis die Sonne hoch am Himmel stand und es sehr warm wurde, traf sie jedoch keine menschliche Seele. Ein wilder Esel floh vor ihnen davon, über ihnen kreisten Vögel. Ulrika hielt Ausschau nach Leoparden und Löwen; weil sie so langsam vorwärtskam, war sie mit Sicherheit eine leichte Beute.
Was für eine trostlose Gegend! Die kahlen, zerfurchten Berge durchzogen von Kavernen, Taubenschlägen ähnlich. Nach einer Legende, die Ulrika in Jerusalem gehört hatte, lebten vor langer Zeit zwei Schwestern mit ihrem Vater in solch einer Höhle. Weil die Schwestern keine Ehemänner und keine Kinder hatten, beschlossen sie, ihren Vater betrunken zu machen und sich dann mit ihm zu vereinigen und somit den Fortbestand der Familie zu sichern. Der Legende zufolge war es den Schwestern gelungen, ihren Vater, einen Mann namens Lot, zu verführen und von ihm schwanger zu werden. Sie gebaren Söhne, die im weiteren Verlauf Stammesväter neuer Völker wurden.
Der Mittag ging vorbei. Als die Sonne sich allmählich gen Westen neigte, kämpfte sich Ulrika durch eine Region aus Kalkstein, vertrockneter Vegetation und Gesteinsbrocken. Und weit und breit kein Wasser.
Irgendwann öffnete sich die öde Landschaft zu einer Ebene. Ulrika ließ Berge und Schluchten hinter sich und machte in nicht allzu weiter Ferne blassblau schimmerndes Wasser aus. Das Salzmeer.
Hungrig und abgekämpft, wie sie war, ging sie weiter. Bald würde sie auf Menschen treffen – auf etwas zu essen und einen Schlafplatz.
Die Schatten wurden länger, die Sonne färbte sich orangerot, als sie endlich das Ufer erreichte, das aussah, als liege es unter einer feinen weißen Ascheschicht. Man hatte ihr gesagt, dass dies kein
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