Die Schicksalsgabe
sie –
Sebastianus!
Ulrika schluchzte vor Freude auf. Er war hier! Mitten in der judäischen Wildnis kam er über den ausgedorrten, salzverkrusteten Boden auf sie zu. Sein blauer Umhang bauschte sich wie das Segel eines mächtigen Schiffs. Sie streckte die Arme nach ihm aus. »Sebastianus, du bist zurück!«
Aber es war nicht Sebastianus. Ein Fremder stand vor ihr. Genau erkennen konnte sie ihn nicht, denn von seinem Körper ging ein Leuchten aus – ein blendendes Licht, das seinen Kopf wie ein strahlender Schein umgab, der alles in Helligkeit tauchte.
Und dann eine Stimme – die sie nicht hörte, sondern vielmehr um sich herum spürte. Eine Stimme, die ihr befahl: »Ruf um Hilfe, Ulrika.«
»Nein, das ist zu gefährlich. Sonst locke ich die Tiere an.«
»Sie wissen längst, wo du bist. Sie kreisen dich ein.«
Mit angehaltenem Atem lauschte Ulrika. Die nächtlichen Raubtiere pirschten sich näher.
»Ruf um Hilfe«, wiederholte die Erscheinung. »Rasch! Sofort! Ruf, Ulrika, durchdringe die Nacht mit deiner Stimme.«
Sie öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Ihre Kehle war ausgetrocknet.
»Noch einmal!«, forderte sie der Geist auf. »Jetzt gleich! So laut du kannst!«
Ulrika holte tief Luft, sammelte ihre letzten Kräfte und schrie aus Leibeskräften: »Zu Hilfe! So hilf mir doch jemand!«
Und plötzlich war da ein warmes Licht, das Ulrika einhüllte, sie wie eine liebevolle Umarmung umgab, sie aufhob, sie wie auf einem goldenen Meer sanft wiegte. Wellen von Mitgefühl und Geborgenheit durchdrangen sie. Sie hörte die tiefe weiche Stimme sagen: »Hab keine Angst. Alles wird sich zum Guten wenden.«
Mit einem Mal senkten sich Frieden und Gelassenheit über Ulrika. Noch nie war sie innerlich so ruhig, so entspannt gewesen. Schön war das.
Ich sterbe, dachte sie ganz gelöst. Die wilden Tiere haben mich gefunden. Sie werden mich zerreißen und verschlingen. So also ist es, wenn man stirbt. Na gut, meinetwegen.
»Hallo? Ist da draußen jemand?«
Sie antwortete nicht. Bestimmt bildete sie sich nur ein, dass jemand gerufen hatte. Außerdem wollte sie sich nicht aus dem Licht um sie herum wegbewegen. Seine Wärme tat ihr gut. Sie wünschte sich, auf ewig darin zu verharren.
»Wer ist da draußen?«
Sie schlug die Augen auf, blickte hinauf zu den kalten Sternen, spürte, wie ihr die eisige Nacht unbarmherzig und beißend in die Knochen fuhr. Wo waren die Wärme und das Licht abgeblieben?
Ulrika holte tief Luft, versuchte, ihre Glieder zu bewegen. Was war das eben gewesen? Mühsam setzte sie sich auf, sah sich um. Hinter ihr erhoben sich die schwarzen Berge, vor ihr erstreckte sich das Salzmeer, silbern schimmernd im Licht der Sterne. Wer hatte gerade gerufen?
Und dann sah sie helle Fünkchen, die beim Näherkommen zusehends größer wurden. »Ist da jemand?«, rief eine Stimme. »Gib Laut, damit wir dich finden.«
»Hier bin ich!«, schrie Ulrika und versuchte sich aufzurichten. Sie hob die Arme und winkte. »Hier, hierher!«
Das Licht kam näher, es waren zwei Frauen, die Fackeln trugen. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte die eine.
»Liebes Kind«, sagte die Ältere von ihnen, »bist du etwa ganz allein hier draußen?« Die beiden bedienten sich der in diesem Teil des Reichs vorherrschenden Sprache, die Ulrika geläufig war – einem Gemisch aus »gewöhnlichem« Griechisch und Aramäisch.
»Ich habe mich am Bein verletzt«, sagte Ulrika.
Die beiden Frauen packten mit an, jede umfasste einen Arm Ulrikas und brachten sie auf die Füße. Die Jüngere der beiden, eine große Frau um die vierzig, stützte die Verletzte und half ihr beim Gehen.
Ohne ein Wort zu wechseln, zogen sie zu einem Felsvorsprung, den sie umrundeten, um von dort aus bergan einem schmalen Hohlweg zu folgen, der Schutz vor dem Wind bot und wo Ulrika mehrere Zelte aus schwarzer Ziegenhaut stehen sah. Die Ältere der beiden Frauen betrat das größte dieser Zelte, die andere steckte erst ihre Fackel in eine Halterung im Freien, ehe sie, Ulrika weiterhin stützend, folgte.
Im Inneren des Zelts war es mollig warm und hell. Angenehm überrascht und erleichtert sank Ulrika auf ein Lager aus Decken und Schaffellen. »Ich bin Rachel«, sagte die Jüngere der beiden und reichte Ulrika einen Becher Wasser. »Dies ist Almah. Willkommen in unserem Haus, Friede sei mit dir.«
Dankbar nahm Ulrika das Wasser entgegen. Nachdem sie ihren brennenden Durst gestillt hatte, nannte sie ihren Namen. »Ich hatte mich schon damit
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