Die Schicksalsgabe
Sebastianus wollte mir bei der Suche helfen.«
Rachel rührte die Suppe durch, fügte eine Prise Salz hinzu. »Sebastianus ist ein guter Freund?«
»Ich kenne ihn noch kein ganzes Jahr, aber mir kommt es vor, als würde ich ihn seit ewigen Zeiten kennen.« Und dann sprudelte es aus ihr heraus – wie sie Sebastianus am Sammelplatz der Karawanen kennengelernt hatte; wie Sebastianus sie vor den Angreifern in den Wäldern gerettet hatte; wie sie sich mit Sebastianus eine Nacht lang versteckt hatte; sie erzählte von der Rückreise und davon, was sie über Sebastianus in Erfahrung gebracht hatte, von der Fahrt über das Meer, von einer regnerischen Nacht in einem Gasthaus in Antiochia. Bei dem Gedanken, wie sich das alles anhören musste, errötete Ulrika. Beinahe jeder Satz begann mit »Sebastianus …«
Mit zwei Schalen Suppe setzte sich Rachel neben Ulrika, schob ihr eine Schale hin. »Als ich mich in meinen Jakob verliebte«, sagte sie, »konnte ich von nichts anderem als von ihm sprechen. Manchmal sagte ich mir nur laut seinen Namen vor, weil sich das so schön anfühlte und ich mich freute, wenn er ausgesprochen wurde. Du sprichst den Namen Sebastianus ganz ähnlich aus.«
Zwischen den Schemeln stand ein kleiner Tisch, auf dem ein Teller mit rundem flachem Brot lag, außerdem ein Schälchen mit Salz sowie zwei mit Wasser gefüllte Becher. Schweigend tunkten die beiden Frauen den dicken Linseneintopf mit Brot auf. Ulrika überließ sich ihren Gedanken, dachte über Rachels Schicksal nach und spürte, wie bemerkenswert es doch war, dass sie beide, Frauen aus sehr unterschiedlichen Welten, hier ihr einfaches Mahl teilten.
Als sie fertig waren und Ulrika aufstehen wollte, neigte Rachel den Kopf und sagte:
»hav lan u-nevarekh …«
Ulrika hörte höflich zu, bis Rachel ihr Gebet zu Ende gesprochen hatte und dann zur Erklärung sagte: »Nach dem Essen pflegen wir Gott zu danken und seinen Segen zu erbitten.«
Auch in der vergangenen Nacht, als Rachel vor dem Schlafengehen die letzte Lampe gelöscht hatte, hatte sie ein Gebet auf Hebräisch gesprochen. Und heute Morgen, beim Aufstehen, abermals.
»Das Gebet ist in unserem Leben allgegenwärtig«, erklärte sie. »Das Gebet bezeugt unsere Verbindung zu Gott. Es ist die tägliche Bestätigung und Erneuerung unseres Glaubens.«
Sie räumte die leeren Schüsseln ab. »Sobald du wieder einigermaßen laufen kannst, bringe ich dich zur Oase, damit du dort baden kannst. Ich selbst gehe einmal im Monat zur
Mikwe.
Das ist ein rituelles Reinigungsbad nach dem Menstruationszyklus – in einem gesonderten und den Frauen vorbehaltenen Wassertümpel. Wir sind dort ganz unter uns.«
Der Tag verging und ein weiterer. Ulrika passte sich dem Rhythmus von Rachels und Almahs seltsamer Lebensweise an. Da ihr Knöchel nur langsam heilte, blieb sie im Zelt, wenn ihre Gastgeberinnen zur Oase gingen, wo sie Hühnereier und Ziegenkäse gegen Wasser und Datteln und Fisch eintauschten. Eines Tages brachten sie lebende Heuschrecken mit, die Rachel in einem Korb der Sonne aussetzte, bis sie tot waren, und dann hockte sie sich hin und zupfte den Heuschrecken mühsam die Flügel, Beine und Köpfe aus, schob die Körper dann in ihren aus Ton gefertigten Ofen und ließ sie dort rösten. Welch Delikatesse! Gekochte Hühnereier servierte Rachel mit einer Sauce aus Pinienkernen und Essig. Zum Nachtisch wartete sie mit in Honig gebackenen Mandeln und Pistazien auf. Abends, wenn die Sonne sank und es im Tal ganz still wurde, tranken die drei Frauen gern ein wenig mit Wasser verdünnten Dattelwein.
Ulrika fühlte sich mehr und mehr zu ihrer Gastgeberin hingezogen, auch wenn ihr manches noch unverständlich war. In Rachels Zelt gab es keine Götterstatuen, keine Reliquien von Vorfahren, keinen Opferaltar. Die Religion der Juden war ihr nicht vertraut, sie verstand nur so viel, dass ihr Gott unsichtbar war, weshalb sie kein Abbild von ihm anfertigten. Jeweils bei Tagesanbruch und abends betete Rachel im Freien zu ihrem Gott, den sie »Vater« nannte. Ihr Glaube schien viele Essensvorschriften zu beinhalten – was man zu sich nehmen durfte, wurde als
koscher
bezeichnet –, und Ulrika staunte, dass Rachel sie alle kannte.
Die Abende verbrachten sie am Lagerfeuer unter den Frühjahrsgestirnen, und während Ulrika ihre Sandalen reparierte und Almah am Webstuhl saß, zerkleinerte Rachel Gemüse und erzählte Geschichten von den Helden der Vergangenheit.
»Die jüdische Geschichte weiß viel über
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