Die Schicksalsgabe
schenkten. Einzig die an einem Lederriemen befestigte kleine Holzkiste, die an ihrer Schulter hing und deren ägyptische Hieroglyphen und babylonische Keilschrift sie als medizinische Ausrüstung kennzeichneten, unterschied Ulrika von anderen jungen Frauen.
Sie überlegte, was sie von dem Geld kaufen konnte, das sie gerade für das Aufstechen eines Abszesses erhalten hatte – als sie plötzlich meinte, ihren Augen nicht zu trauen. Vor einem Stand, an dem Zwiebeln, Lauch und Linsen verkauft wurden, hockte auf dem staubigen Boden ein großer grauer struppiger Hund.
Ulrika wusste nicht, warum ausgerechnet dieser Hund ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Eigentlich war nichts Besonderes an ihm, schon weil es auf dem Markt vor Tieren wimmelte: Da gab es Verschläge mit zum Verkauf stehenden Gänsen und Hühnern, Kisten mit Enten, Käfige mit Tauben, Stangen, auf denen angekettete exotische Papageien und Falken saßen. Schweine grunzten und Ziegen meckerten in strohbelegten Verschlägen, Katzen und Hunde, die man verzehrte oder im Tempel opferte, liefen in kleinen Käfigen hin und her. Selbst Schlangen wurden zu den Flötenklängen der Schlangenbeschwörer feilgeboten, und zum Erstaunen der Menge hingen an den Gesichtern von Mystikern sogar Skorpione.
Dennoch konnte sich Ulrika vom Anblick eines ganz gewöhnlichen Hundes nicht losreißen.
Und dann merkte sie, dass das Tier kein Hund, sondern ein Wolf war.
Seit jener Nacht in der judäischen Wildnis, als er sie zu einem geheimen Grab geführt hatte, war die Vision von dem Wolf ausgeblieben. Umso erstaunter und neugierig starrte sie jetzt das Tier an. Und dann ging etwas in ihr vor: Den Blick unverwandt auf die Vision gerichtet, verlangsamte sie ihren Atemrhythmus, verbannte alle Gedanken mit Ausnahme der auf den Wolf konzentrierten und sah ihn mit neu erwachter Intensität an. »Führe mich dorthin, wohin ich gehen soll«, flüsterte sie. »Weise mir den Weg.«
Das Tier erhob sich und bewegte sich geschmeidig durch eine Menschenmenge, die nichts von dem Geisterwolf ahnte. Er führte Ulrika unter einen steinernen Torbogen, und gleich darauf stand sie auf einem kleinen Platz, der umgeben war von Wohnhäusern mit Holztüren und Fenstern mit Klappläden. In der Mitte des Platzes scharten sich mehrere Leute um einen Mann. In Babylon war das nichts Besonderes; Straßenartisten – Zauberer, Geschichtenerzähler, sogar Seher und Geisterbeschwörer – traf man auf Schritt und Tritt an.
Der Mann in der Mitte dieser kleinen Schar unterschied sich jedoch von den üblichen Schaustellern, die stets farbenfroh gekleidet waren, um auf sich aufmerksam zu machen. Dieser Mann hier trat zurückhaltend auf, bescheiden. An seinen langen Locken, die sein Gesicht umrahmten, dem weißen, mit Fransen besetzten Schal mit den blauen Streifen und an den um Arme und Stirn geschlungenen Lederriemen erkannte Ulrika ihn als strenggläubigen Juden. Auch die Menschen, die sich um ihn herum aufhielten, waren ungewöhnlich zurückhaltend. Anstatt zu pöbeln und zu drängeln, verhielt sich dieses Grüppchen, das hauptsächlich aus Frauen und Sklaven bestand, ganz ruhig. Etwas abseits standen ein paar Männer mit verschränkten Armen und skeptischem Gesichtsausdruck.
Als Ulrika bemerkte, dass viele der Umstehenden Verletzungen aufwiesen oder krank waren, mutmaßte sie, dass der Mann in der Mitte ein Wunderheiler war, von denen es in Babylon jede Menge gab.
Jetzt trat eine Frau neben diesen jüdischen Wunderheiler, der die Hände erhoben hatte und leise sang. Da auch die Frau sang, schloss Ulrika daraus, dass sie gemeinsam beteten.
Während alle schweigend dem gedämpften Murmeln der beiden Stimmen lauschten, musterte Ulrika ihre Gesichter. Hoffnung und Vorfreude drückten sich darin aus, und sie fragte sich, was diese Menschen sich erwarten mochten. »Verzeihung«, flüsterte sie der Frau, die neben ihr stand, zu. »Wer ist dieser Mann?«
»Das ist Rabbi Judah«, gab die Frau Auskunft. »Er ist unlängst aus Palmyra gekommen. Es heißt, er vollbringe Wunder.«
Ulrika richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die beiden in der Mitte der schweigenden Menge und bemerkte, dass die betende Frau jetzt schluchzte. Die Hände vor dem Gesicht, neigte sie den Kopf und weinte. Der jüdische Wunderheiler legte eine Hand auf ihre Schulter und sagte: »Verstehst du jetzt, Schwester?«
Zu aufgewühlt, um ein Wort herauszubringen, konnte die Frau lediglich nicken.
Bewegung kam in die kleine Gruppe, es wurde
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