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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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getuschelt. Ein anderer kam dran, ohne dass jemand drängelte und schubste, ohne dass krakeelt oder Münzen hochgehalten wurden. Vielleicht, so Ulrikas Überlegung, hatte man ihnen vorher eingeschärft, diesem Judah gegenüber respektvoll zu sein, oder aber sie spürten instinktiv, wie sie sich zu verhalten hatten.
    Die Frau trat zurück – versuchte noch, Judah ein paar Münzen zuzustecken, was der aber ablehnte –, und alle warteten gespannt ab, wen der jüdische Wunderheiler als Nächsten vorrufen würde. Dementsprechend enttäuscht waren sie, als der Mann sich räusperte und mit wohlklingender Stimme sagte: »Brüder und Schwestern, Gnade und Friede und Barmherzigkeit sei mit euch. Denkt immer daran: Nichts ist verloren, nichts ist verborgen. Bittet, und es wird euch gegeben werden. Suchet, und ihr werdet finden. In der Vergebung liegt Erlösung, denn die Wohltaten eines Mitmenschen sind es, die uns im Gedächtnis haften sollen, nicht seine Sünden. Vor allem aber wisset dies: Es gibt keinen Tod, es gibt nur ewiges Leben, solange ihr euch die Liebe Gottes bewahrt. Und tröstet euch auch in dem Wissen, dass Gott einen göttlichen Plan hat, dessen Ziel letztlich das höchste Wohl für die Menschheit ist. Wir müssen nur seinen heiligen Gesetzen gehorchen, dann werden wir belohnt.«
    Der Mann schwieg, und die Menge ging still auseinander. Ulrika verstand nicht, was da eben stattgefunden hatte. Man hatte keine atemberaubenden Zaubertricks zu sehen bekommen, kein Feuerwerk, keine Verwandlung von Wasser in Wein, nicht die Spontanheilung eines Blinden oder Gelähmten erlebt, geschweige denn den Lärm und den Jubel wie sonst so oft bei anderen Wundertätern, die sich öffentlich zeigten.
    Warum hatte ihre Vision von dem Wolf sie dann hierhergeführt?
    Jetzt wandte sich der Rabbi ihr zu und blickte sie direkt an. Ulrika spürte, wie etwas über den in der Sonne liegenden kleinen Platz flog, wie unsichtbare Flügel ihre Augen streiften und sich durch ihren Körper mitten in ihrer Seele einnisteten. Sie rang nach Luft, konnte sich nicht bewegen.
    Judah kam leicht humpelnd auf sie zu. Er roch nach Brot und Zwiebeln, und in seinem dichten grauen Bart, der ihm bis auf die breite Brust reichte, entdeckte Ulrika eine Pistazienschale.
    »Sei gesegnet, Tochter«, sagte er auf Aramäisch. »Was ist es, das du suchst?«
    Da sich die Versammlung bereits zerstreut hatte, war es Ulrika ein Rätsel, warum er sie angesprochen hatte. »Bist du ein Mystiker, ehrenwerter Vater?«, fragte sie.
    Er lächelte. »Ich bin ein unwürdiger Diener Gottes, Ruhm und Ehre sei ihm.«
    Sie schaute zu dem Toreingang, durch den die weinende Frau verschwunden war. Jetzt dösten dort nur noch zwei Verkäufer von Ishtar-Eiern in der Sonne.
    »Diese geschätzte Schwester hat etwas verloren. Nun weiß sie, wo sie es findet«, kam Judah Ulrikas Frage zuvor. »Aber auch du suchst etwas, Tochter. Kann ich dir helfen?«
    Ulrika forschte in seinem ledernen Gesicht nach Zeichen von Verschlagenheit. Aber Judahs Augen blickten offen und ehrlich, seine Züge verrieten nicht die leiseste Spur von Arglist. Und er hatte kein Geld verlangt, im Gegensatz zu allen Scharlatanen, die dies taten, bevor sie ihre Dienste anboten. Ulrika beschloss spontan, ihm zu vertrauen. »Ich übe mich in Meditation«, sagte sie. »Aber anscheinend kann ich mich nicht ausreichend konzentrieren. Soviel ich weiß, ist Meditation eine Art Gebet, und deshalb dachte ich …«
    Er nickte. »Komm mit und brich mit uns das Brot.«
    Wenn Ulrika einen kleinen Familienkreis, ein privates Zusammensein erwartet hatte, sah sie jetzt, dass das Haus von Rabbi Judah allen offen stand. Im Hof drängten sich Menschen jeden Alters und aller sozialen Schichten. Eine fröhliche, ausgelassene Stimmung herrschte, es wurde gesungen, es wurden Bekenntnisse abgelegt, spirituelle Offenbarungen vorgetragen. Irgendwann bat Judah um Ruhe und hob an, zu der freudig erregten Menge zu predigen, eine Botschaft zu verkünden, die um das bevorstehende Ende der Tage und den Anbruch einer neuen Zeit kreiste, die er »das Königreich« nannte.
    Die Menge brach in Jubel aus und fing an zu singen. Judah mischte sich unter sie, segnete sie und dankte ihnen für ihr Erscheinen. Als er zu Ulrika kam, sah er sie lange und fragend an. »Warum möchtest du die Kunst der Meditation erlernen?«
    »Ehrenwerter Rabbi«, sagte sie, »zeit meines Lebens werde ich immer wieder von Visionen überrascht. Sie sind nicht zu erklären, sie kommen

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