Die Schicksalsgabe
habhaft zu werden.
Sobald sie die Taverne verließ, würde er aus seiner Deckung herauskommen und sich ihrer bemächtigen.
»Ich glaube, ich kann dir Linderung verschaffen«, sagte Ulrika.
»Niemand kann mir helfen!«, wimmerte der Mann. »Tausend Teufel wirbeln in meinem Kopf herum! Sie veranstalten ein höllisches Durcheinander in meinem Schädel. Ich kann nicht schlafen. Ich bin am Ende. Am liebsten würde ich sterben!«
»Guter Mann«, wiegelte Ulrika beschwichtigend ab, während die übrigen Gäste in der Holzhütte, in der Reisende wie Einheimische Zuflucht vor der kalten Nacht gesucht hatten, aufhorchten. »Ich weiß um diese Beschwerden und verstehe mich darauf, sie zu lindern. Wenn du gestattest, dass ich dich näher ansehe …«
Der Ärmste, ein rundlicher Perser mit strähnigem Bart und dunklen Ringen unter den Augen, hatte, als Ulrika die kleine Hütte betreten und sich ans Feuer gesetzt hatte, seinen Kumpanen die Ohren vollgejammert, dass sein Leiden ihn bei der Arbeit auf dem Bauernhof behindere, dass er ständig taumle und kaum geradeaus gehen könne. Daraufhin hatte Ulrika ihm ihre Hilfe angeboten.
Es war einmal mehr, dass sie ihre medizinischen Kenntnisse anderen zugute kommen ließ. Seit vierzehn Monaten zog sie von Ansiedlung zu Ansiedlung, verdiente sich das, was sie zum Leben brauchte, mit ihrer Heilkunst, hielt sich nie länger als einen Tag oder eine Nacht an einem Ort auf, blieb für sich, nannte niemandem ihren Namen, hatte nur ein Ziel vor Augen – den Prinzen zu finden, der ihre Hilfe benötigte.
Als Miriam, die Frau des Rabbis, ihr gesagt hatte, sie müsse in Persien einen Fremden retten, hatte Ulrika ihr geglaubt. Miriam stand in dem Ruf, eine Prophetin zu sein, und weil Ulrika zudem in Persien das Licht der Welt erblickt hatte, schien es ihr bestimmt zu sein, dort einem Prinzen zu Hilfe zu eilen.
Noch einen Grund gab es für Ulrikas Entschluss, sich auf die Suche nach dem Prinzen zu begeben. Als sie seinerzeit als Drei- oder Vierjährige mit ihrer Mutter dieses Land bereist hatte, waren sie einem in prächtige Gewänder gekleideten, ungemein beeindruckenden Mann begegnet. Einem Mann, der auf einem prunkvollen Thron saß und einen hohen runden Hut trug, unter dem dichte Locken hervordrängten, die ihm bis auf die Schultern fielen. Auffallend war vor allem sein ungeheurer Bart, ein Wust von krausen Löckchen, die seine Brust bedeckten und bis zur Körpermitte reichten. In einer Hand hielt er einen Stab, in der anderen merkwürdigerweise eine Blume. Vor ihm, in einem goldenen Rauchfass, verbrannte Weihrauch.
Ulrika erinnerte sich nicht mehr daran, wie lange sie und ihre Mutter sich bei diesem Edelmann aufgehalten hatten oder ob sie mit ihm gespeist und vielleicht sogar in seinem Haus übernachtet hatten. Auch sein Name war ihr entfallen. Aber seine äußere Erscheinung hatte einen so tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen, dass sie ihn nicht vergessen hatte. War
er
etwa der Prinz, von dem Miriam gesprochen hatte? Gut möglich. Vielleicht lebte er sogar unweit der Kristallenen Teiche von Shalamandar. Eigentlich, so hatte Ulrika gemeint, sollte es ganz einfach sein, ihn ausfindig zu machen: Sie brauchte nur die Route, der sie und ihre Mutter vor achtzehn Jahren aus Persien heraus gefolgt waren, zurückzuverfolgen.
Wie sich herausgestellt hatte, war dies ein alles andere als einfaches Unterfangen. Seit über einem Jahr war sie jetzt unterwegs, ohne mehr über diesen stattlichen Mann in Erfahrung gebracht zu haben, von seinem Aufenthaltsort ganz zu schweigen.
Jetzt bat sie den Bauern, sich auf einem langen Tisch auszustrecken. Sofort wurde er von den anderen in der Taverne umringt – Männern und Frauen in wollener Gebirgstracht, deren Gesichtszüge die typischen Eigenheiten eines Volkes aufwiesen, das sich aus der Vermischung von Parther-Blut mit dem der griechischen Invasoren ergeben hatte. Schöne Menschen, wie Ulrika fand.
Sie warf einen Blick in eine Nische an der Wand gegenüber, wo eine einzelne Lampe flackerte. Solche Nischen hatte sie, seit sie in diese Gebirgsregion gekommen war, die sich Ort der schweigenden Kiefern nannte, bereits häufig gesehen. Es waren Schreine für einheimische Gottheiten,
daevi
genannt, was so viel wie »himmlisch« oder »strahlend« bedeutete – heilige und wohltätige Gottheiten, die hier seit Tausenden von Jahren verehrt wurden. Während um Rom herum die Statuen von Göttern und Göttinnen und in den Straßen von Babylon die nicht zu
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