Die Schicksalsgabe
lauschte angespannt und aufmerksam.
»Ohne mich würdest du viel schneller vorankommen«, gab Ulrika, die vermutete, dass ihm jemand auf den Fersen war, zu bedenken.
Wieder ging er nicht auf sie ein, sondern bog langsam den Ast nach unten und sicherte ihn in dieser Position mit einem Strick. Die auf dem Boden liegende Schlinge tarnte er mit Laub und Gras. Ulrika mutmaßte, dass eine leise Berührung genügte, und das Ende mit der Schlinge würde durch den so geschaffenen Auslöseimpuls nach oben schnellen.
»Lass mich hier zurück«, bat Ulrika. »Ich bin dir zu nichts nütze …«
Ein Knacken.
Er wirbelte herum.
Wieder knackte es.
Ulrika sprang auf.
Sie lauschten. Hörten Schritte. Jemand kam näher.
»Wir müssen weg!« Er schob seinen Dolch in die Scheide zurück und griff zu den Reisebündeln. »Schnell!«
Ulrika nahm den Beutel mit den Nüssen und den Wassersack an sich. Als sie ihren Medikamentenkasten aufheben wollte, den der Fremde unweit des Laubhäufchens abgestellt hatte, sah sie, dass dort noch das Horn aus Elfenbein lag, und – hatte eine Vision von derartiger Klarheit und Intensität, dass sie zurücktaumelte. Ein veritables Feuerwerk. Funken stoben zum Nachthimmel empor. Menschen tanzten wie in Trance, schrien, schlugen derart fanatisch auf Trommeln ein, dass Ulrika der Kopf brummte. Alles um sie herum drehte sich. Angst, Hoffnung, Sehnsucht. Tränen benetzten sie. Lautes Lachen hob sie empor. Sie wurde himmelhoch getragen und zu Boden fallen gelassen.
Sie fühlte, dass jemand an ihrer Hand zerrte. Die Vision schwand. Sie blinzelte. Der Fremde schaute sie an. »Fass das hier nicht an!«, sagte er mürrisch und meinte damit das Horn, das er ihr weggenommen hatte.
»Tut mir leid. Es lag mir fern, etwas Unrechtes zu tun.«
Hastig befestigte er das elfenbeinerne Horn wieder an seinem Gürtel. »Es ist heilig. Nicht für Ungläubige. Wir müssen jetzt weiter.«
Eilig brach er auf, gefolgt von Ulrika. Hinter ihnen waren weit entfernt Schritte zu vernehmen.
Kaum dass sie ein Stück in den Wald hineingegangen waren, hörten sie plötzlich einen Schrei. Sie hielten kurz inne, um sich umzuschauen und dem Wutausbruch zu lauschen, der von wilden Hackgeräuschen begleitet wurde.
Die Falle hatte zugeschnappt.
»So warte doch«, keuchte Ulrika, die sich mit letzter Kraft vorwärtsschleppte. »Ich kann nicht mehr weiter. Ich muss mich ausruhen.«
Der Fremde packte sie am Handgelenk und zog die bereits taumelnde junge Frau trotz ihres Protestes mit sich. Seit dem frühen Morgen waren sie unterwegs; inzwischen hatte die Sonne ihren Höchststand erreicht. Von ihren Verfolgern hatten sie seit Stunden nichts mehr gehört.
»Bitte …«, versuchte es Ulrika abermals, als er unvermittelt stehen blieb und sie ihn anrempelte, so dass beide um ein Haar gestürzt wären.
»Wir sind da.« Er eilte voraus.
Um sich herum erblickte Ulrika nichts als dichten Wald aus Kiefern und Eichen und gesprenkeltes Sonnenlicht. Verwundert sah sie ihren Entführer in einem Dickicht verschwinden, aus dem er gleich wieder auftauchte und ihr ungeduldig bedeutete, ihm zu folgen.
Vorsichtig näherte sie sich dem Gestrüpp, das undurchdringlich schien, bis sie eine Schneise entdeckte, durch die sie sich zwängte und sich plötzlich in einer mitten im Wald geschickt versteckten und getarnten kleinen Hütte befand. Obwohl sie wohl nur zeitweise als Unterkunft diente, strahlte sie Behaglichkeit aus. Der Fußboden war mit Teppichen ausgelegt, von der Grasdecke oben hingen Messinglampen herab, flackernde goldene Flämmchen sorgten für eine Atmosphäre, in der man sich wohlfühlen konnte.
In der Mitte des Raums, auf einem Lager aus Tierhäuten, schlief ein junges Mädchen. Sie schien hohes Fieber zu haben.
Ulrika vergaß Erschöpfung und Hunger. Sie trat zum Lager, beugte sich über das Mädchen, befühlte die heiße Stirn.
»Wie steht es um sie?«, fragte der Mann aus den Bergen und kniete sich neben Ulrika. »Vor eineinhalb Tagen habe ich sie verlassen. Es blieb mir nichts anderes übrig.«
Ulrika schob die Augenlider der Kranken nach oben, sah die erweiterten Pupillen. Der Puls des Mädchens raste, die Atmung war flach. »Sie ist sehr krank.«
»Ich wollte sie nicht allein lassen.« Als er die Decke aus weichem Rehleder anhob, kam eine hässliche Wunde zum Vorschein. »Sie ist gestürzt und hat sich verletzt. Ich habe versucht, sie, so gut ich konnte, zu versorgen, aber dann kam es zu Eiter in der Wunde. Um sie zu
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