Die Schicksalsgabe
folgte der runde und strahlend helle Spätsommermond seiner Bahn. Schaute Sebastianus in diesem Moment ebenfalls zu diesem Mond empor? Hatte er vielleicht China bereits erreicht? Seiner Schätzung nach würde er drei Jahre bis zur fernöstlichen Hauptstadt benötigen. Wenn dies zutraf, würde er dann in einem Jahr den Rückweg nach Rom antreten?
Ich werde in Babylon sein und dich dort wiedersehen. Immer wieder belebte sie dieser Gedanke.
Fröstelnd spähte sie in der Dunkelheit nach dem Weg zu Koozogs Schweinefarm, wickelte sich fester in ihren Umhang – und merkte nicht, wie sich von hinten jemand an sie heranschlich. Sie sah nicht die große Hand, die vor ihrem Gesicht auftauchte und sich ihr auf Nase und Mund presste. Ein starker Arm packte sie um die Taille, blockierte ihre Arme. Ulrika wollte schreien, konnte aber nicht. Als sie den Boden unter den Füßen verlor, wehrte sie sich, indem sie um sich trat und strampelte.
Sie konnte nicht atmen. Sie rang nach Luft, aber ein eiserner Griff verschloss ihr Nase und Mund.
Wie gelähmt nahm sie noch wahr, wie es um sie herum ganz dunkel wurde, dann verlor sie das Bewusstsein.
22
Warum war das Vorankommen so beschwerlich? Hätte der Anführer nicht einen angenehmeren Weg einschlagen können? Und wann würden sie Babylon erreichen? Ulrika fühlte sich zusehends elender. Ihre Handgelenke schmerzten. Warum schmerzten sie?
Sie schlug die Augen auf, blinzelte. Es war Nacht, und offenbar hockte sie nicht auf einem Wagen, denn unter sich sah sie das Erdreich vorbeiziehen.
Und dann merkte sie, dass ihr die Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren. Jemand hatte sie wie einen Sack Getreide geschultert. Sie wollte laut schreien, aber der Knebel und das Tuch über ihrem Mund hinderten sie daran.
Nach Kräften wehrte sie sich gegen ihren Entführer. Doch darauf wurde dessen Griff noch fester. Als sie zu strampeln versuchte, hielt er ihre Beine fest. Sie sträubte sich gegen ihre Fesseln. Ein Arm legte sich auf ihre Schenkel, hielt sie wie ein Schraubstock fest. Dennoch gab Ulrika nicht auf, wand sich so lange hin und her, bis ihr Entführer ins Straucheln geriet.
»Genug!«, bellte eine Stimme auf Farsi, um dann auf Griechisch zu zischen: »Halt still!«
Sie wehrte sich nur noch heftiger und so ausdauernd, bis ihr Entführer stehen blieb und sie einfach zu Boden plumpsen ließ. Da sie merkte, dass ihre Füße nicht gefesselt waren, krabbelte sie rückwärts über den mit Laub bedeckten Waldboden, ohne den hochgewachsenen, furchteinflößenden Bergbewohner aus den Augen zu lassen. Er war in Pelze gehüllt und schien ihrem Fluchtversuch keinerlei Bedeutung beizumessen, weil er ihr einfach den Rücken zukehrte und Reisebündel sowie Ulrikas Medikamentenkasten auf dem Boden abstellte.
Sie kam nicht weit. Ihre Füße verhedderten sich in ihrem langen Umhang. Und als sie mit Kopf und Schultern gegen etwas Hartes stieß, sah sie im Mondlicht, dass es eine mächtige Kiefer war. In panischer Angst schaute sie sich nach links und rechts um, aber da war nichts als undurchdringlicher Wald.
Erneut versuchte sie, die Fesseln an ihren Händen zu lockern oder gar abzustreifen, als sie sah, dass ihr Entführer sich anschickte, mit einem langen Stock ein Loch zu graben.
Ihr Grab!
Todesangst und wilde Entschlossenheit verliehen Ulrika so viel Kraft, dass es ihr gelang, den Knebel auszuspucken und das Tuch über ihrem Mund auf ihr Kinn rutschen zu lassen. »Wer bist du?«, keuchte sie. »Warum hast du mich entführt?«
Sofort war er bei ihr, drückte ihr die Klinge seines Dolchs an die Kehle. »Du sollst still sein, hab ich gesagt«, knurrte er. Und wieder auf Griechisch: »Verstehst du mich?«
Sie nickte nur.
»Kein Wort mehr«, sagte er, »oder ich bringe dich eigenhändig zum Schweigen.«
Wie gelähmt sah sie mit an, wie er sich wieder an dem Loch zu schaffen machte, bis es breit und tief genug für eine Leiche war. Dann hockte er sich hin und schnitzte mit seinem Dolch Äste zurecht, die er mit tödlichen Spitzen versah.
Trotz ihres Umhangs zitterte Ulrika, ließ aber nicht ab, an ihren Fesseln zu zerren, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. Das Mondlicht, das durch das Blätterdach der Baumwipfel drang, half ihr, sich einen ersten Eindruck von ihm zu verschaffen. Seiner Stimme nach schien er jung zu sein. Sein Haar wirkte schwarz. Hochgewachsen und schlank, wie er war, trug er eine Tunika aus Fell und lederne Beinkleider. Seine Arme, die trotz der nächtlichen Kälte
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