Die Schicksalsleserin
Mann auf. Christoph ließ sich nun auf ein Knie nieder und überreichte ihm das Medaillon. »Der heilige Georg steht dir gegen alle Feinde bei, sichtbare wie unsichtbare. So musst du dich nie mehr fürchten. Auch nicht davor, dass jemand deiner Mutter oder deiner Schwester etwas antut.«
Anna hielt den Atem an, denn sie hörte Friedrich flüstern: »Auch nicht davor, dass Leute weggehen und nie mehr wiederkommen?« Dabei huschte sein Blick zu ihr herüber. Anna schloss dankbar die Augen. Natürlich fürchtete Friedrich sich vor den Soldaten. Aber nachdem der Vater so plötzlich verschwunden war, hatte er jetzt Angst, dass auch die Mutter fortging und nicht wiederkehrte. Was musste der arme Junge alles durchmachen! Doch Anna atmete erleichtert auf: Fritzl hatte sein Schweigen endlich gebrochen.
Christoph lächelte traurig. »Davor kann dich nicht einmal der Herr schützen. Aber der heilige Georg kann dir helfen, dich an die Menschen zu erinnern und sie im Herzen zu bewahren. So sind sie immer bei dir.« Er legte dem Jungen das Medaillon in die Hand. »Hier, behalte es.«
Friedrich schloss die Finger um das Metall. »Besuchst’ uns mal?«, fragte er leise.
»Das weiß ich nicht genau«, sagte Christoph und sein Blick traf unwillkürlich Annas Augen. »Ich werde es versuchen, das verspreche ich.« Damit erhob er sich.
Anna griff sich ihr Bündel und trat an die beiden heran. Sie legte Friedrich die Hand auf die Schulter. »Wir müssen jetzt gehen, Fritzl.«
Der hängte sich die Lederschnur um den Hals. »Wohin denn?«
»Ich weiß es nicht, Schatz. Aber wir bleiben zusammen.«
Der Bannerträger hatte die Furcht in ihrer Stimme offenbar gehört und legte sanft seine Hand auf ihre. In seinen Augen las sie, wie sehr er sich um sie und die Kinder sorgte. Sie schenkte Christoph einen dankbaren Blick.
Mehmed schlug die Zeltplane beiseite und kam herein. »Seid ihr bereit?«
»Ja«, murmelte Anna beklommen. »Auf Wiedersehen, Herr Christoph«, sprach sie. »Und … danke schön.«
»Auf Wiedersehen, Frau Anna«, sagte er warm.
Dann verließ Anna das Zelt, das sie sechs Tage lang mit Christoph Zedlitz von Gersdorff geteilt hatte. Sie wusste nicht, wohin Mehmed sie bringen würde.
Als sie hinaus ins helle Mittagslicht trat, war die Zukunft einmal mehr ungewiss.
KAPITEL 23
D er stete Nieselregen des Vormittags hatte nach dem Mittag des zwölften Oktober endlich ein Ende, und kurz vor der dritten Stunde riss sogar die Wolkendecke über Wien auf und gestattete einigen Sonnenstrahlen, auf die Erde zu fallen.
Lucas fror trotzdem. Der Regen hatte ihn so sehr durchnässt, dass er sich nach einem Feuer und einem warmen Eintopf sehnte. Wenn er in sich hineinhorchte, dann reichte die Kälte aber tiefer als bis auf seine Knochen. Madelins Verrat saß in seinem Herzen wie ein Dorn, der einen steten Schmerz verursachte. Er ballte die Fäuste bei dem Gedanken an das, was sie getan hatte. Wenn er heute im Kugelhagel der Osmanen stürbe, wäre das ihre Schuld. Wie hatte sie das tun können? Und wie hatte sie ihn anlügen können, als er sie aus der Schranne geholt hatte? Warum hatte sie sich ihm bloß nicht anvertraut? Gemeinsam hätte man doch sicher eine Lösung finden können! Der Student starrte hoch zur Sonne, doch in seinem Innersten herrschte dunkle Wut. Nein, er wusste wirklich nicht, wie er in sich die Kraft finden sollte, Madelin diese Dinge zu vergeben. Er hockte sich auf den Rand des Brunnens auf dem Hohen Markt, schloss die Augen, streckte die Füße aus und ließ sich von der Sonne wärmen.
Am Vormittag war er, so seine Pflichten das zuließen, von Lazarett zu Lazarett gelaufen und hatte alle Mönche und Nonnen befragt, die er getroffen hatte. Niemand hatte mit seiner Beschreibung des Aussätzigen etwas anfangen können, nirgendwo war der Mann bekannt, der darauf hinarbeitete, Wien an die Türken zu verraten. Wie konnte ein so auffälliger Mensch sich in einer großen Stadt unerkannt bewegen? Vor allem war
den Leprakranken vorgeschrieben, durch Ratschen oder Glocken auf sich aufmerksam zu machen, damit man sie meiden konnte. Lucas erkannte, dass es für diese Ungereimtheiten nur eine Lösung gab: Jemand verbarg den Kranken.
Und wieder einmal packte den Studenten die plötzliche Sorge um Madelins und Franziskus’ Gesundheit. Was, wenn sie nun auch den Aussatz bekamen? Er barg den Kopf in den Händen und presste sie auf seine Schläfen. Es war doch vertrackt. Wie konnten zwei so widersprüchliche Gefühle um
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