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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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gesammelt, sicher um eine Gebetszeit zu halten. Es schien kaum möglich, dass Wien der Masse der Feinde standhalten konnte, sobald sie den Kampf wieder aufnähmen.
    »Sie haben Euch hinausgelassen«, stellte Christoph von Zedlitz fest, als er mit seinen beiden Männern von einem Spaziergang durchs Lager zurückkam und Anna draußen sah. Sie vermutete ein wenig schuldbewusst, dass der Bannerträger das Kindergebrüll im Zelt nicht mehr ausgehalten hatte.
    »Gott sei es gedankt«, sagte sie. »Der Krach hat endlich ein Ende. Ich hätte die Kinder sonst wohl nie zum Schlafen bewegen können. Elisabeth hat sich vorhin so ins Weinen hineingesteigert, dass sie völlig erschöpft war und doch nicht hat einschlafen können. Und Friedrich …«, sie stockte sorgenvoll.
    Der Bannerträger sandte seine Männer fort. »Was ist mit Friedrich?«, fragte er leise.
    »Er hat sich seit dem Überfall Seyfeddins so sehr zurückgezogen, wie ich es noch nie erlebt habe. Nicht einmal nach dem Tod seines Vaters. Ich dringe nicht mehr zu ihm vor.«
    Christoph reichte Anna die Hand und führte sie ein paar Schritte weit weg von dem Zelt. Die beiden Wachen rechts und links des Eingangs blickten zwar misstrauisch drein, denn Anna war ja immerhin eine gemeine Gefangene. Im Gegensatz zu Christoph hatte sie kein Ehrenwort, das sie geben konnte. Doch wenn immer mindestens eines ihrer Kinder im Zelt blieb, konnte sie hinaus. Dass sie nicht ohne sie fortlaufen würde, hatten selbst die hartgesottenen Janitscharen verstanden.
    »Er wird schon wieder zu sich finden, wenn dieser Schrecken endet«, sagte der Bannerträger.
    » Wenn er jemals endet«, murmelte Anna und sah nach Westen. »Wer weiß, ob wir diesen Ort jemals lebend verlassen.«
    Christoph schwieg. Anna wusste, dass er ein schlechtes Gewissen
hatte - ihm hatte der Sultan versprochen, dass er lebend nach Wien zurückkehren würde. Ihr gegenüber gab es kein solches Versprechen, sie war eine Sklavin.
    »Die Männer da draußen sind müde«, murmelte Christoph schließlich. »Sie sind hungrig, und sie wollen nach Hause. Krankheiten plagen sie, und sie frieren seit Tagen.«
    »Was wollt Ihr damit sagen, Herr Christoph?«
    »Dass die Osmanen nicht mehr lange vor Wien stehen werden«, gab er zurück. »Entweder wird der dritte Sturm heute ihr Sieg. Dann ist für uns alles verloren. Oder die Männer in Wien kämpfen heute zum letzten Mal und siegen.«
    »Wie seid Ihr da so sicher?«
    »Der Sultan hat erklärt, dass die Osmanen nur dreimal die Mauern berennen müssen, um ihre Pflicht zu erfüllen. Sie müssen drei Stürme gegen die belagerte Stadt fechten, dann können sie nach Hause gehen. Selbst Süleyman ist dafür, heimzukehren.«
    »Aber wenn der Sultan nicht mehr an diesen Kampf glaubt«, fragte Anna, »warum wird er dann überhaupt noch gefochten?«
    Christoph lächelte schief. »Der Befehlshaber der Truppen ist Ibrahim Pascha, der Großwesir. Er ist der Stratege dieses Feldzugs. Er spricht seine Empfehlungen aus, und der Sultan verlässt sich auf ihn.«
    »Und … was gewinnt der Großwesir, wenn weitergekämpft wird?«
    »Dasselbe, das alle Offiziere und Provinzführer gewinnen, wenn Wien fällt: Geld, Ansehen, Ehre.«
    Anna verstummte für einen Augenblick. »Das klingt nicht gut für die Kinder und mich«, sagte sie dann traurig. »Wenn die Türken bald abziehen, sehen wir Wien nicht wieder.«
    »Habt ein bisschen Vertrauen«, erwiderte Christoph und
legte seine Hand auf ihren Arm. »Der Herrgott wird Euch schon beschützen.«
    Anna berührte dankbar seine Finger und sah ihm in die Augen. Sie war entsetzlich müde. Kein Wunder, die Kinder hatten solche Angst, dass sie Tag und Nacht an ihr hingen. Christoph konnte sich die Ohren immerhin mit Kerzenwachs verstopfen, damit er ruhig schlafen konnte. Diesen Luxus genoss die Mutter selbst nicht.
    »Warum legt Ihr Euch nicht ein wenig schlafen?«, fragte Christoph. »Ich passe schon darauf auf, dass Euch niemand etwas Böses will.«
    Der Bannerträger wusste, dass die Gefangenschaft sie so hellhörig und unruhig gemacht hatte, dass sie bei jedem Geräusch in der Nähe des Zeltes aufwachte. »Ja«, murmelte sie zögerlich. »Ich denke, das werde ich tun. Ich danke Euch von Herzen.«
    Ein Lächeln hellte sein junges Gesicht auf. Christoph war ein wenig älter als Anna, doch ihm gegenüber fühlte sie sich bereits wie eine alte Frau. Die Schwangerschaften, der Tod ihres Mannes Friedrich und die letzten Monate in ständiger Furcht um ihr Auskommen

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